Moral und Gewissen der Terroristen
Die Attentäter, die im Moskau des Jahres 1905 einen Anschlag auf den russischen Großfürsten und Zaren-Onkel Sergej Romanow verübten, waren aus anderem Holz geschnitzt als die Marodeure, die heute im Namen von IS und von Al Qaida in die Welt ausgesandt werden, um die Sache des gerechten Allah zu vertreten. So wie Albert Camus sie in seinem 1949 uraufgeführten Drama Die Gerechten beschreibt, handelte es sich in der Mehrzahl um reflektierte, teilweise sogar ausgesprochen sensible Intellektuelle. Intellektuell überzeugend und mit gehöriger Sensibilität muss auch Kerstin Plewa-Brodam von der Studio-Bühne Essen vorgegangen sein, als sie für die kleine Krayer Amateur-Bühne die Aufführungsrechte ergatterte: Nichtprofessionelle Gruppen erhalten nur in exzeptionellen Ausnahmefällen die Genehmigung zu einer Aufführung. Der Verlag gab sein Plazet für maximal zehn Vorstellungen. Vielleicht sollte er zur zweiten Aufführungsserie im Januar und Februar 2016 mal jemanden an der Essener Korumhöhe vorbeischicken. Denn Plewa-Brodams spannende Inszenierung stellt manchen verkopften Versuch der Stadt- und Staatstheater in den Schatten.
Camus' mehr als 65 Jahre altes thesenhaftes Stück kann furchtbar einschläfernde Wirkung haben, wenn man es rein historisierend inszeniert. Und es kann, obwohl extrem handlungsarm, aufrütteln, wenn es der Regie gelingt, seine Aktualität an die Oberfläche zu spülen. Kerstin Plewa-Brodam lässt sich von der Thesenhaftigkeit des Stücks nicht stören: Geschickt nutzt sie die Konstruktion des Dramas, um seine Aktualität nachzuweisen.
Den Attentätern vom Stade de France, von Charlie Hebdo oder dem Bataclan unterstellt man ausschließlich kriminelle Motive. Sie selbst, so verblendet sie einer aufgeklärten, toleranten, aber eben auch extrem libertären, für den islamischen Kulturkreis provozierend libidinösen Gesellschaft erscheinen mögen, empfinden sich als gerechte Kämpfer für Gottes Ordnung – so wie sie sie verstehen. Die Gruppe der Sozialrevolutionäre, die Sergej Alexandrowitsch umbrachten, hatten mit Gott nicht viel am Hut. Sie kämpften gegen Zwangsherrschaft und Unterdrückung und für mehr soziale Gerechtigkeit. Die Gesellschaft, in der sie lebten, war unbestritten von krassen sozialen Unterschieden geprägt. Doch auch für Camus, auch für die Attentäter seines Stücks stellten sich die Fragen, die heute noch hochaktuell sind: Darf man Leben gegen Leben abwägen? Inwieweit wird das moralische Grundempfinden ausgehöhlt durch verbissen verfolgte Ideologien? Und was macht die Tötung unschuldigen Lebens mit der Psyche des Schuldigen? - Ein gewisses Verständnis kann das heutige Publikum den Anarchisten nicht versagen, auch wenn die in Camus' Drama im Zentrum stehende Frage nach der Kompatibilität von Terrorismus und Gerechtigkeit für die meisten von uns beantwortet scheint: Terror kann nie gerecht sein.
„Janek“ Kaljajew ist ausgeguckt, den Großfürsten zu töten. Doch im letzten Moment zuckt er zurück, denn in der Kutsche des Fürsten sitzen dessen sich noch im Kindesalter befindenden Neffen. Stepan, der knasterfahrene Hardliner, greift Kaljajew an: Um ein neues Russland zu errichten, sei der Tod von zwei Kindern bedeutungslos. Weil Janek die Bombe nicht geworfen habe, würden Hunderte von russischen Kindern verhungern, argumentiert er. Die beiden diskutieren auf unterschiedlichen Ebenen: Stepan geht es um die unerbittliche Durchsetzung einer abstrakten Ideologie, während sich Kaljajews Blick auf die unschuldigen kleinen Individuen richtet, die dem Kampf zum Opfer fallen. Von den „schönen Seelen des Terrors“ sprach Hans Magnus Enzensberger in Bezug auf Die Gerechten - Kaljajew und die von ihm geliebte Dora sind typische Vertreter dieser Spezies. Stepans Denkmuster dagegen finden wir in Brechts stalinistischer „Maßnahme“ wieder, die schon Heiner Müller in „Mauser“ in Frage stellt: Ideologie hat Vorrang vor Menschlichkeit und Moral. Kaljajew erkennt richtig: „In dem, was du sagst, höre ich eine neue Form der Gewaltbereitschaft.“ - Ein hochmoderner Satz in Zeiten von IS und Pegida, auch wenn Stepan gegen die radikalisierten Islamisten unserer Tage ein Waisenknabe ist.
Doch werden nicht auch die heutigen jungen Selbstmordattentäter von Hasspredigern und zynischen Kommandeuren ausgenutzt? Wenn der großmäulige, mitleidlose Stepan zu erkennen gibt, dass er selbst keineswegs geneigt ist, zum Märtyrer für seine Terrorzelle zu werden, fallen einem die menschenverachtenden Ideologen des Islamischen Staats ein, die fehlgeleitete junge Idealisten mit dem fragwürdigen Versprechen von postmortalem Sex mit 72 Jungfrauen in den Tod schicken. Kaljajew aber, von Stepan als „Poet“ beschimpft, wird den Mut beweisen, für die Gruppe der Sozialrevolutionäre zu sterben, und sehnt sich nicht nach 72 Jungfrauen im Paradies, sondern nach der höchst realen Dora. Mit ihr reflektiert er den Konflikt zwischen Ideologie und Gewissen: „Ich dachte, es reicht das Ideal … Aber es ist nicht so.“ Von Beginn an ist Dora die Diskrepanz zwischen der theoretischen Rechtfertigung eines Mordes und der menschlichen Katastrophe, die die Tat anrichtet, bewusst. Rational und empfindsam zugleich, erkennt sie zudem, wie weit sich die Gruppe mit ihren revolutionären Theorien bereits vom Volk entfernt hat. Auch das ist eine typische Entwicklung aller anarchistischen Gruppen.
Kaljajew wird einen zweiten Anschlag verüben, und dieser wird erfolgreich sein: Der Großfürst stirbt. Als Janek im Gefängnis sitzt, bietet ihm die Großfürstin an, sich für sein Leben einzusetzen, wenn er sich zum Mord an ihrem Gatten bekennt. Doch Kaljajew streitet ab, dass es sich um einen Mord gehandelt habe: Die Tötung sei schließlich ein Akt der Gerechtigkeit gewesen. Der philosophische Diskurs, den Janek mit der Großfürstin ausficht, muss ihm zusetzen, doch er verteidigt seine Fassade, versteckt die menschliche Regung von Mitleid und Schuld hinter der Ideologie. Großartig gelingt es Sebastian Hartmann, den inneren Konflikt seiner Figur erkennen zu geben. Hartmann als Kaljajew und Alessandra Wiesemann als Dora ragen aus einem gut aufgelegten Ensemble heraus. Glaubwürdig verkörpert Wiesemann die reflektierte, gerade darum zweifelnde und doch standhaft ihren politischen Positionen treu bleibende Dora. Auch Thorsten Simon als Kaljajews Gegenspieler Stepan bleibt im Gedächtnis. Ganz zu Recht hat Kerstin Plewa-Brodam auf die Stärke ihres Ensembles und die Sprache des Stückes gesetzt und nur gelegentlich die Spannung durch behutsam, dann aber wirkungsvoll eingesetzte Musik gesteigert. - Liebe Leute vom Deutschen Theaterverlag: Weitere Aufführungen genehmigen!