Komplexe Theorien, einfaches Stück
Partygeplauder. Man – vor allem Mann – möchte ins Gespräch kommen. Frau wirkt noch ein wenig spröde, will aber auch. Roland stellt sich als Imker vor. „Mensch, ich find‘ Honig so geil!“, ruft Marianne mit etwas übertrieben scheinendem Enthusiasmus.
Marianne ist Quantenphysikerin. Ihr Arbeitsgebiet ist die Theoretische Kosmologie des Universums. Sie erzählt – zu einem etwas späteren Zeitpunkt – von den Zusammenhängen und Widersprüchen zwischen Relativitätstheorie und Quantenmechanik, von der physikalischen Stringtheorie und vom Multiversum als der Gesamtheit aller möglicher existierender Parallelwelten. Das finde er total sexy, sagt der Imker. Dann küsst er sie. Ihm würde in diesem Moment wohl ein Duoversum aus Roland und Marianne reichen – baldige Kernschmelze inklusive.
Das ist schon eine seltsame Konstellation, dieses Paar aus Imker und Quanten-Kosmologin, das wir in Nick Paynes Erfolgs-Stück treffen. Aber darum geht es nicht. Die Berufe der beiden Protagonisten wurden von Payne nicht zufällig gewählt. Die Theoretische Kosmologie beschäftigt sich mit den Konsequenzen des Urknalls für die weitere Entwicklung des Universums. Nach Aussage der Max-Planck-Gesellschaft deutet vieles darauf hin, dass das Universum zur Zeit des Urknalls außergewöhnlich flach, homogen und isotrop, also richtungsunabhängig im Hinblick auf seine Eigenschaften war. Solche Forschungsergebnisse und die – in Teilen konfliktären – Erkenntnisse der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik bringen nicht nur Marianne auf den Gedanken, dass unsere Welt nicht alles ist, sondern dass es Paralleluniversen, mehrere Welten mit möglicherweise ähnlichen Strukturen gibt. – Und was hat der Imker damit zu tun? Der findet das erstens sexy und unterbreitet zweitens seiner Marianne einen Hochzeitsantrag mit Hilfe eines etwas schrägen Vortrags über die Eleganz der Honigbiene und ihrer klar strukturierten Lebensweise im Kontrast zur stolpernden Unsicherheit des menschlichen Daseins, das Imker, Physiker und Theaterzuschauer immer wieder vor schwierige Entscheidungen stellt.
Komplexe Gedanken, einfaches Stück. Mariannes interstellare Multiversums-Theorie und Rolands höchst irdische Entscheidungsnöte führt Payne in einem kleinen Stück zusammen, in dem jede Szene mehrfach durchgespielt wird. Kleine, ja: kleinste Änderungen in der Diktion, minimal veränderte Entscheidungen führen dazu, dass sich die Geschichte vollkommen anders entwickelt. Man muss ja Honig nicht geil finden – dann läuft aber die Bemühung des Imkers um eine Partnerin für die Nacht möglicherweise ins Leere. Je nach Konstellation kann es passieren, dass sich das noch gar nicht Paar gewordene Duo schon nach zwei Minuten trennt. Der Autor lässt solch verschiedene „Konstellationen“ für alle wesentlichen Stationen einer Paarbeziehung durchspielen: Kennenlernen, Lieben, Trennen, Wiedertreffen, Tanzen, Heiraten, Betrügen, Weiterlieben, Sterben. Alles drei- bis viermal mit unterschiedlichem Ausgang, unterschiedlichen Wendungen. Oft sind die Abweichungen nur marginal, aber nichts ist von vornherein determiniert in unserer, Rolands und Mariannes Welt – jede Entscheidung, jede Verhaltensänderung führt zur Aufspaltung und zur weiteren Existenz der Geschichte in einem Paralleluniversum; jede Entscheidung ist ein Urknall en miniature.
Ein solches Stück könnte großes Schauspielerfutter sein, und seine intellektuelle Grundierung ist beeindruckend. Die britische Presse vergleicht Paynes Drama mit den Werken von Tom Stoppard, Michael Frayn und Caryl Churchill zu ihren besten Zeiten. Am Royal Court Theatre London wurde die Uraufführungs-Inszenierung von Michael Longhurst mit Sally Hawkins und Rafe Spall zu einem rauschenden Erfolg; am New Yorker Broadway war der Applaus der Theaterkritik für Jake Gyllenhall als Roland und Ruth Wilson als Marianne fast schon hysterisch. Aber das Stück hat eine Klippe, die eine kaum zu überwindende Herausforderung für Regie und Schauspieler darstellt: Es ist hochintellektuell und philosophisch gedacht, aber in extrem einfachen Worten und banalen Dialogen geschrieben. Die kurzen Szenen sind kaum ausgestaltet und bieten wenig Ansätze für Dramatik; die dauernden Wiederholungen können ermüden, selbst wenn man das Prinzip relativ schnell durchschaut hat und gespannt auf die Veränderungen lauscht.
Dem Bielefelder Team unter Regisseur Dariusch Yazdkhasti gelingt es nur ansatzweise, die innere Spannung des Stückes deutlich zu machen. Zu wenig variabel geben sich Christina Huckle und Thomas Wehling in ihren unterschiedlichen Paralleluniversen (oder in ihren unterschiedlichen Lebensphasen, die ja ebenfalls mannigfache Möglichkeiten zur schauspielerischen Gestaltung bieten). Es wäre verwunderlich, wenn viele Zuschauer in der Premiere das theoretische Fundament des Textes erkannt hätten. Ohne das wirken Stück und Aufführung jedoch leider ein wenig überambitioniert und banal. Das Publikum war’s dennoch zufrieden, denn manche „Konstellation“ wie die Brautwerbung inmitten der von Marianne gehaltenen Vorlesung wurde witzig und mit viel Humor ausgespielt.
Wer die Spitze seiner Ellbogen lecken könne, der werde dem Geheimnis der Unsterblichkeit nahekommen, behauptet Marianne in der ersten Szene des Abends lächelnd. Ausgerechnet die logisch denkende Quantenphysikerin schäkert da ein wenig mit dem Spiritismus. Das erschütternde Ende bleibt jedoch unverändert in allen Paralleluniversen: Marianne leidet an einem Gehirntumor im Frontallappen, der zunehmend zu Sprachstörungen führt. Christina Huckle gelingt es nun, die Wendung ins Verzweifelte, zutiefst Traurige anrührend zu spielen. Im Sterben noch träumt sie vom Wiedersehen mit Roland in der Tanzschule. Sie leckt ihren Ellenbogen – und fast erreicht sie die Spitze. In einem Kosmos der Paralleluniversen, in einer Welt, der jeder Determinismus fremd ist, gibt es Grund zur Hoffnung. (Trotzdem bekämpft die Theologie die Vorstellung vom Multiversum, denn dort gäbe es auch andere Götter neben dem einen. Oder, eher wahrscheinlich, das Multiversum wäre der Triumph von Physik und Chemie über die Religion.)