Übrigens …

Das Tierreich im Bielefeld, Stadttheater

Ferien mit den Valderrama-Sisters

Irgendwann, eigentlich geschieht es eher beiläufig, fällt ein veritabler Panzer vom Himmel und kracht durch das Schuldach. Und irgendwann zertrümmert Jasper den Jaguar S-Type seines Vaters an einem Baum. Regisseur Henner Kallmeyer hat eine bezaubernde kleine Sommer-Komödie auf die Bretter des Theaters Bielefeld gebracht. Obwohl Jasper einen Schädelbasisbruch erleidet und seine Freundin Lilli bei dem Unfall ein Bein verliert. 

Geht das? Eine Komödie - trotz Panzer und appem Bein? Ist das zynisch? Ça va comme ça, glauben Sie es mir, liebe Leserinnen und Leser – und zynisch ist das überhaupt nicht. Die böse Welt fällt mit makabren Scherzen in die noch eher unbedarfte, in der Außensicht heile Welt einer pubertierenden Jugend ein, aber noch wird sie deren Träume nicht nachhaltig zerstören. Jakob Nolte und Michel Decar, die unter dem Firmennamen Nolte Decar so etwas wie Rising Stars der deutschsprachigen Dramatiker-Szene sind, haben mit Das Tierreich einen Text geschrieben, den manche als reines Jugendstück bezeichnen, der aber auch im Erwachsenen-Theater funktioniert. Das Programmheft versucht, mächtig tief zu gründeln, indem es einen kurzen Ausschnitt aus Charles Darwins Entstehung der Arten und einen spritzig geschriebenen Essay zur Eschatologie abdruckt. Aber von den letzten Dingen ist allenfalls ein paar Sekunden lang die Rede, beim Unfall von Jasper und Lilli halt, und die Entstehung der Arten – nun ja, wir Erwachsene können halt zurückblicken in unsere Schulzeit, in die Zeit unserer Pubertät, und unwillkürlich vergleichen wir, welche evolutionären Schritte die Jugend seitdem zurückgelegt hat. So viele sind das nicht.

In Bad Mersdorf haben die (Puber-)Tiere Schulferien. Bad Mersdorf ist vermutlich das, was der Name des fiktiven Örtchens schon vermuten lässt: ein bisschen langweilig, ein bisschen provinziell, und voller relativ gut erzogener Bürger. Da hängen die Schüler nun rum und schlagen ihre Zeit tot wie wir es damals auch schon getan haben. Aber ist es Zeit totschlagen, wenn man sich ausprobiert, wenn man sich der ersten oder auch schon der zweiten Liebe nähert, wenn man sich einerseits so laienhaft wie wichtig in der Theatergruppe oder der Schul-Umbenennungs-AG engagiert und andererseits endlos dem verschwundenen Chinchilla hinterhertrauert? Es ist ein Selbstfindungsprozess, und wenn man Nolte Decars Schülerinnen und Schülern folgt, fragt man sich unwillkürlich, ob wir Erwachsenen uns eigentlich jemals selbst gefunden haben. Denn das Stück ist viel tiefsinniger als es vordergründig daherkommt: Ganz leicht diskutieren die Pubertiere innerhalb der sechswöchigen Sommerferien, worüber die Erwachsenen sich ganze Legislaturperioden lang mit großer Schwere auseinandersetzen: Soll / kann / darf die Schule sich weiterhin Hindenburg-Gymnasium nennen? Die Münsteraner haben den gigantischen Parkplatz vor dem Schlaunschen Schloss nach furchtbar bierernsten Debatten und einem Volksentscheid umbenannt, und in der Heimat des Rezensenten wird man wohl unter das Straßenschild der Hindenburg-Straße einen mittellangen Roman kleben, der auf die Untaten des einstigen Helden und unglücklichen Steigbügelhalter des Führers hinweist. Das machen die Schüler lockerer: Von Paul Gerhardt über Andreas Baader bis zu Albrecht Dürer und Christoph Probst (ein Mitglied der Weißen Rose, dessen Taten nach Ansicht der Schüler im Schatten der übermächtigen Geschwister Scholl zu wenig beleuchtet werden) reichen die Vorschläge. Wie Klein-Lieschen sich die Theaterarbeit vorstellt, klingen die Auseinandersetzungen darüber, ob und wie man heute den Prinzen von Homburg zu spielen hat – und doch sind es die gleichen Argumente, die man auch auf Premierenfeiern aus dem Publikum hört.

Doch meist geht es in den Schulferien um die banaleren Dinge des Lebens. Nele Brunner spielt mit Lennart Nowak Federball – ganz beiläufig wird die Sensation verkündet: Die beiden sind ein Paar. „Liebe ist die Lösung, auch für Palästina“, weiß Nicole, und Sprüche wie „Wir küssen uns, und woanders ist Krieg“ könnten, etwas anspruchsvoller formuliert, auch manch verirrtem erwachsenem Idealisten entfahren. Sie entspringen der sympathischen Wichtigtuerei junger Heranwachsender, die gerade beginnen, ein politisches Bewusstsein zu entwickeln. Die Zwillinge Elisabeth und Franziska spinnen ein wenig herum und hören „ein Wimmern aus dem Weltall“ oder behaupten, sie gäben sich für eine Schwester aus, die sich einst mit dem Taschenmesser das Leben genommen habe, Der von Guido Schikore mit großer Sensibilität gespielte Klaus Nöhler, das „Opfer“ in dieser Klasse, wird ein wenig gemobbt (aber nicht zu sehr); der große, sich selbstbewusst gebende Sven trägt ein kitschiges Gedicht vor, und als einer auf die Idee kommt, einmal einen Porno zu gucken, sind alle ganz begeistert. Und flugs tauchen die lachenden, feixenden Köpfe der sieben Schauspieler hinter der schrägen Rampe auf, die Bühnenbildnerin Franziska Gebhardt ins TAM gebaut hat, und erfreuen sich an aus den Lautsprechern erklingenden Volksmusik-Weisen. Alles halb so schlimm.

Von der ersten Minute an wirkt die temporeiche Aufführung ungemein sympathisch. Mit schnellen Schnitten werden die unzähligen Kürzest-Szenen miteinander verbunden; wunderbare Sommerhits schaffen die adäquate entspannte Atmosphäre dazu. Vor allem aber lebt die Aufführung von dem spielfreudigen, pointensicheren Ensemble. Es bringt die zahlreichen Bonmots zum Klingen, die in Nolte Decars Stück stecken. Sieben Schauspieler teilen sich 21 verschiedene Rollen, und nahezu jede Figur erhält ihren eigenen Charakter. Die Kostümabteilung hat Akkordarbeit geleistet und bei der Ausstattung ihrer Schützlinge eine liebenswürdige Ironie walten lassen. Die Schauspieler wissen das zu nutzen: In Windeseile wechseln sie kleine Accessoires oder einzelne Bekleidungsstücke, und schon haben sie sich eine vollständig neue Figur angeeignet. Bezaubernd sind Isabell Giebeler und Felicia Spielberger als Fürle-Zwillinge mit feuerroter Valderrama-Frisur, doch aus dem ausnahmslos überzeugenden Ensemble ragt Nicole Lippold heraus, die von der altfränkischen Jungfer über die zarte, schüchterne Verliebte bis zur überforderten, schrill schreienden Lehrerin gleich vier Figuren mit höchst unterschiedlichen Charakterzügen gleichermaßen glaubwürdig verkörpert. „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt wie es ist, dann muss sich alles ändern“, sagt eine der Figuren des Stücks in einem hellsichtigen Moment. Das ist ein großer, schwerer philosophischer Satz. Und eine politische Forderung. Und eine klitzekleine, ganz leichte Alltags-Wahrheit. In diesem Sinne geht die liebenswürdige, so wunderbar menschenfreundliche Adoleszenz-Komödie zu Ende: Vincent hat jetzt Nele Brunner auf dem Moped, das Schüler-Theater spielt anstelle des Prinzen von Homburg den Zerbrochnen Krug, Steffen begegnet einem Chinchilla und Lilli will erstmal keinen mehr sehen. Der eine oder andere bleibt natürlich Opfer, aber nicht ganz so schlimm, und, ach ja: das Gymnasium wird weiterhin Hindenburg-Schule heißen.

Wir alle haben uns in einem federleichten Stück ein winziges bisschen selbst erkannt, denn das Stück ist viel tiefsinniger als es vordergründig daherkommt. Wir wissen nun auch, dass die Evolution doch erheblich langsamer vonstattengeht als wir es manchmal beklagen zu müssen glauben: So anders ist die Jugend nicht als vor zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren. Okay – es muss sich alles ändern, damit es bleibt, wie es ist. Aber: „Dauerten wir unendlich, so änderte sich alles“, wusste schon der alte Brecht. „Da wir aber endlich sind, bleibt vieles beim Alten.“ Und das ist gut so.