Wenn Eifersucht und Zweifel siegen
Die Bühne in der dunklen Rottstraßen-Höhle ist geflutet – knöcheltief steht Wasser in einem rechteckigen Pool, um den man zwar herumspielen kann, der aber oft genug als Planschbecken für die Schauspieler dient. Das hatten wir schon mal, im Jahre 2002 in Köln, als Ola Mafaalani mit ihrem Othello für einen der wenigen Höhepunkte in der dunklen Zeit der Intendanz von Marc Günther sorgte. Damals stand eine Schickimicki-Bar im Pool der aristokratisch-militärischen Kanalratten-Gesellschaft Venedigs, und am Ende mag es der Strand von Zypern gewesen sein, an dem Othello seine Desdemona in einem der perfektesten Theatermorde der Geschichte unter Wasser drückte. Doch jetzt, im proletarischen Bochum, gibt es kein Schickimicki. Auch kein Venedig und keinen Zypern-Krieg - nicht einmal einen Feldherrn. Nur ein junges, glücklich verliebtes Paar.
„Loving strangers“, singt Russian Red vom Band, ein glockenhelles Liebeslied, zu dem Othello und Desdemona sich zögernd einander nähern. „Loving strangers“ – ja, das ist ein Problem in Shakespeares Tragödie: Die weiße Schöne liebt den Mohren. Das ist so wenig vorstellbar für die arrivierte Gesellschaft wie dass der schwarze Mohr eine reine, edle Seele hat. Doch auch von einem Mohren ist nicht die Rede in Konstanze Kappensteins Inszenierung. Felix Lampert ist als Othello der virile, energiegeladene weiße junge Mann, der er immer ist in den Rottstraßen-Stücken, und als Fremder geht er höchstens durch, weil Desi und er einander noch nicht so lange kennen. „Lass uns lieben wie noch nie ein Mensch zuvor“, schmachtet Desdemona, und kein Krieg, kein Rassenproblem deutet darauf hin, dass dies nicht gelingen könnte. Doch warum zitterte Othello zu Beginn am ganzen Leibe? Und wer ist diese Figur, die zusammengekauert in der Ecke sitzt und uns den Rücken zuwendet?
In den Stunden des Glücks hat diese Figur keine Macht. Jago (Dirk Hermann) beginnt früh, der fleischlichen Lust und der Polygamie das Wort zu reden; zügig und umstandslos geht die Denunzierung Cassios vonstatten. Doch solange Othello und Desdemona immun sind gegen Jagos Sticheleien und Intrigen, bleibt Tim-Fabian Hoffmanns rätselhafte Figur stumm und abgewandt. Doch schließlich gehen die Zweifel, die Jago sät, auf. Da erwacht das Wesen, das die dunkle Seite der Liebe verkörpert. Noch waren Eifersucht und Zweifel verkapselt, doch nun krabbelt Hoffmann auf Lampert zu, und in physischem Kampf ringt Othello mit dem, was ihn da ankriecht. Othello ist Desdemona verfallen, vorübergehend kann er die aufkeimende Eifersucht zurückdrängen in ihre Schmuddelecke, doch die ist nun selbstbewusst geworden: Herausfordernd blickt Hoffmann Lampert an, und in einem erneuten Kampf unterliegt der gute Othello dem bösen Zweifel. Othello hat weder die Stabilität noch die mentale Stärke, seiner doch erkennbar verliebten Gattin zu vertrauen. Eifersucht und Zweifel führen zu einer vollständigen Verwandlung seiner Persönlichkeit. Desdemona spricht in ihrem nächsten Auftritt die Hoffmann-Figur an, und nun ist es Lampert, die reine und vertrauensvolle Othello-Seele, die in der Ecke kauert. Der neue Othello ist es, der Desdemona erstechen wird.
Was Hoffmann und Lampert darstellen, ist ein Spiel mit der sich wandelnden Identität. Liebe träumt sich in jede Wüste, wie es bei Schiller heißt, aber nicht nur Herrschsucht, sondern auch Eifersucht zertrümmert die Welt in ein rasselndes Kettenhaus. Und sie verwandelt den Menschen bis zur Unkenntlichkeit. Konstanze Kappenstein hat Shakespeares Text auf gut 80 Minuten zusammengestrichen und bis auf das Protagonisten-Paar und den Intrigen-Schmied alle Figuren gestrichen – aber sie hat die Kernsätze zur Identität im Text belassen. „Gut wär’s, wenn die Menschen so wären wie sie scheinen“, spottet Jago, als er Othello von der Untreue Desdemonas überzeugen will. Othellos Gattin hatte schon früh, wenn auch in ganz anderem Zusammenhang, gestanden: „Ich verhülle, was ich bin, in einem anderen Ausweis“ – andeuten wollend, dass sie mehr Tiefgang, Neigung zur Melancholie und Verlässlichkeit besitze als ihre nach außen getragene verliebte Fröhlichkeit vermuten ließe. Vielleicht ist es ja das, was unseren Zweifel nährt und damit alle zwischenmenschlichen Probleme auslöst: dass wir selbst dann, wenn wir es gut meinen, selten so sind wie wir scheinen …
So hat denn Konstanze Kappenstein den alten Othello auf überzeugende Weise ins Heute geholt. Sie lässt ihn spielen in einer Mischung aus exzellent vorgetragener klassischer Übersetzung und moderner Umgangssprache und mit einem Personal, dass man jederzeit auch im benachbarten Bochumer Bermuda3eck antreffen könnte. Dass man sich dort in Desdemona verlieben könnte und diese rund um den Bochumer Hauptbahnhof die reinsten Eifersuchtsdramen auslösen würde, mag man angesichts der kecken Powerfrau, die die junge Aischa-Lina Löbbert an der Rottstraße darstellt, unbesehen glauben. Am Ende aber ist Desdemona nicht nur physisch tot, sondern längst psychisch zerstört. „Ich denke, jetzt müsste große Finsternis sein“, sagt nun wieder Othello 1. „Es ist die Schuld des Mondes. Er kommt der Erde näher als er pflegt und macht die Menschen toll.“
Das ist dann wieder Shakespeare. Toll macht nicht der Mond, sondern die gespaltene oder instabile Persönlichkeit. Toll macht der Mangel an Vertrauen. Und toll sind Textfassung und Spiel im Theater an der Rottstraße.
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