„Ich habe das Gefühl, dass ich alle meine Blätter verliere.“
Der junge französische Autor Florian Zeller gilt als einer der begabtesten Bühnendramatiker der Gegenwart. Sein Stück Vater, 2012 in Paris uraufgeführt, zeigt fünf Tage im Leben von André und befasst sich auf eindringliche Weise mit der Krankheit Demenz und ihren Auswirkungen auf das Leben der Patienten und ihrer Angehörigen. Wir erleben die für alle Beteiligten schmerzhafte Suche nach der Wahrheit intensiv mit, die von Ängsten, Missverständnissen und Unsicherheit begleitet wird. So schwierig es für den Patienten ist, mit dem fortschreitenden Verlust der eigenen Identität, mit dem Abnehmen von Kompetenzen und Autonomie fertig zu werden, so problematisch ist es für die Menschen in seinem Umfeld, überhaupt irgendeine Kommunikation mit dem Erkrankten zu pflegen. In einem Interview sagte Richard Taylor, Psychologe und selbst an Alzheimer erkrankt: „Ich habe die Leute gefragt, warum sie die Art verändern, in der sie mit mir kommunizieren. Viele haben mir gesagt, dass sie davor zurückschrecken, mich etwas zu fragen, weil sie fürchten, dass ich die Antwort nicht weiß und mir das peinlich ist. Fragt sich natürlich, wem das tatsächlich peinlich ist – denen oder mir?“
Das Stück Vater führt die Zuschauer behutsam und berührend in die Situation eines Alzheimer-Patienten und seiner Tochter Anne ein. Zu Beginn ist manches noch unfreiwillig komisch. So hat André die Pflegekraft mit einer Gardinenstange bedroht, die daraufhin kündigte. Auch seine wiederholte, sich zunehmend schwieriger gestaltende Suche nach der verlegten Uhr sieht zunächst nach einer Petitesse aus. Nicht für André, ist die Zeit doch auch ein Hilfsmittel zur Orientierung. Sein Gedächtnis lässt ihn immer mehr im Stich. So lebt er schon bald bei Anne, was er aber nicht wahrnimmt („Meine Wohnung werde ich nie verlassen.“). Der Schwiegersohn erscheint ihm plötzlich als Fremder, Anne steht vor ihm und doch sucht er sie. Immer wieder spricht er von der Tochter Elise, deren Tod er verdrängt. Zeller erzählt die Geschichte aus der Sicht des Erkrankten, lässt uns an seiner zunehmenden Verwirrung, an seinen Ängsten teilhaben. Was auch dadurch veranschaulicht wird, dass verschiedene Personen auf der Bühne stehen. Tochter, Schwiegersohn und Pflegerin haben alle ein Pendant.
Alexander Riemenschneider inszenierte Vater in den Bochumer Kammerspielen. Auf der schlichten grau-schwarzen Bühne lässt er einen „Bewegungschor“, sechs schwarz gekleidete Menschen, ständig die Requisiten herein- bzw. heraustragen, an immer wieder andere Stellen setzen. Man kann sich hierdurch gut vorstellen, wie es mit Andrés Wahrnehmung und Erinnerungsvermögen aussieht. Stand hier nicht eben die Kommode, das Sofa, die Stehlampe? Wo sind die Stühle? Usw. Der Haupttrumpf der Inszenierung aber ist der grandiose Bernd Rademacher. Mühelos gelingt es ihm, den rasch fortschreitenden Verfall glaubwürdig zu spielen. Zunächst den scheinbar nur leicht Verwirrten, der zu seiner Tochter spöttisch sagt: „Hast du Probleme mit dem Gedächtnis?“ Und sich gegenüber der neuen Pflegerin als Charmeur gibt („Ich liebe es, die anderen zu überraschen.“). Dann ist er immer mehr desorientiert und hilflos, zuweilen deshalb auch aggressiv. Zum Schluss – André ist in einem Heim untergebracht worden, es stehen nur noch weiße Stühle auf der Bühne – ein Häufchen Elend: „Was mache ich hier?“ Vollkommen mutlos sagt er: „Ich habe das Gefühl, dass ich alle meine Blätter verliere.“ Nach und nach werden alle Stühle herausgetragen, bis die Bühne leer ist. Rademacher steht in Pyjama und Bademantel verloren in einem Spot, der langsam verglüht. Schmerzlich anzusehen. Eine großartige schauspielerische Leistung. Das Ensemble - Xenia Snagowski, Roland Riebeling, Sarah Grunert, Kristina Peters, Nils Kreutinger – ist insgesamt zu loben. Besonders Xenia Snagowski als Anne, die in dem Konflikt zwischen Liebe zu ihrem Vater und dem so häufig fruchtlosen Bemühen, ihm zu helfen, fast aufgerieben wird.
Ein nachdenklich stimmender, ungemein berührender Abend, auch über die Verantwortung der Generationen füreinander. Ein Plädoyer für Alzheimer-Kranke! Taylor fasst es so zusammen: „Durch Alzheimer wird mein Bedürfnis, zu lieben und von anderen geliebt zu werden, nicht geringer.“