Troilus und Cressida im Köln, Schauspiel

Vom Campen im Zauberwald

“In Troja liegt der Schauplatz…

hinter dessen starken Vesten

die Königin des Menelaos, die entführte Helena,

mit Lüstling Paris schläft: das ist der Zank.”

So sollte uns der Prolog in der Übersetzung von Simon Werle, die der Hausregisseur Rafael Sanchez für seine Inszenierung am Kölner Schauspiel zugrunde legt, informieren. Doch der Prolog wurde gestrichen, und so müssen wir uns mühsam hineinfinden ins Geschehen.

Da sitzen sie am Bühnenrand in einer Reihe, die müden Helden, mit dem Rücken zum Publikum auf einer simplen Biergartenbank und warten darauf, „aufgerufen“ zu werden und sich zu sortieren: die Griechen verschwinden im angedeuteten Lager im bunt-illuminierten Zauberwald aus mächtigen Eichenstämmen auf der quadratischen Drehbühne im hinteren Bühnenteil, die Trojaner bleiben auf der Vorderbühne. Wer aufpasst, merkt es bald: die Trojaner sind die mit dem zivilisierten Outfit, von der Karohose des Troilus (Nikolaus Benda) bis zum Business-Anzug des Priamos (Guido Lambrecht). Die Griechen hingegen sind die Wilden mit Lederschurzen und Ledergurten auf viel nackter Haut, mit zerzausten Haaren und struppigen Bärten - so hatten wir sie uns bis dahin eher nicht vorgestellt. Eine Ausnahme bildet allerdings der affektierte Achill (Robert Dölle) im langen Seidenmantel einer alternden Diva - mit seinem Lover auf dem Lotterbett.

Man befindet sich im zehnjährigen Trojanischen Krieg, dem Feldzug der Griechen gegen Troja, um den Raub der Schönen Helena, der Schönsten-Frau-der-Welt, zu rächen. Diese Geschichte von Leidenschaft und verheerendem Krieg beschäftigt die Dichter durch die Jahrhunderte, seit Homer sie um 800 v. Chr. - vier bis fünf Jahrhunderte nach dem vermuteten Geschehen - in der Ilias niederschrieb.

William Shakespeare siedelt sein Drama im siebten Kriegsjahr an. Die Helden sind müde. Sie scheinen vergessen zu haben, wofür sie in den Krieg zogen. Das griechische Lager wird zum Panoptikum der Rivalitäten und Intrigen der Heerführer. Odysseus (Niklas Kohrt) - der einzige Grieche, der den Überblick behält und die Fäden zieht - höhnt: „Achill hat sich, die Ohren voll von seinem windgen Ruhm, in seinen eignen Wert vergafft, wälzt sich in seinem Zelt und sein Genosse reißt auf seinem Lotterbett gemeine Possen.“ Auf die Spitze treibt das Gespött dann der Lästerer Thersites, (Yvon Jansen) wenn er/sie die Situation so zynisch wie nihilistisch - leider etwas zu hastig gesprochen - karikiert: „Das ganze Gerangel dreht sich um eine Hure und einen Hahnrei - ein würdiger Grund, sich totzubluten….Immer nur Krieg und Geilheit.“

Doch weder das archaische Liebespaar Helena und Paris - die in dieser persiflierenden Inszenierung alles andere als schön und betörend sind - noch die großen mythischen Kriegshelden eröffnen das Geschehen auf der Bühne. Es ist vielmehr die kokett anrührende Annäherung zweier junger Verliebter. Inmitten eines enervierenden Chaos’ schwören sich Troilus, Sohn des trojanischen Königs Priamus, und Cressida (Nicola Gründel), Tochter des Priesters Kalchas, der kürzlich zu den feindlichen Griechen überlief, bildreich ewige Liebe und Treue, ohne zu ahnen, dass sie schon bald durch den grotesk sinnlosen Krieg und die Ränke der Männerwelt getrennt sein werden - und die treulose und verängstigte Cressida sich in die Arme des feindlichen Liebhabers flüchten wird.

Shakespeare konterkariert diese Liebes-Episode - die übrigens nicht aus Homers Ilias stammt, sondern erst in einem mittelalterlichen Epos auftaucht - von Anfang an durch die undurchsichtigen Manöver des schmierigen Kupplers Pandarus, seine lüsterne Geschwätzigkeit und weinerliche Unverschämtheit. Bruno Cathomas gibt diesen Fiesling so überzeugend komödiantisch, dass er die Lacher auf seiner Seite hat. Und dennoch gelingt es Nicola Gründel und Nikolaus Benda, ihrer Liebesszene eine rührende Ernsthaftigkeit zu geben und diese erstaunlich kleine Episode - umgeben vom Klamauk und Zynismus der Männergeschichten - mit Empathie zu füllen. Selbst Cressidas Untreue nach der Übergabe an die verrohten, sie bedrohenden Griechen, weckt unser Mitgefühl: sie flieht vor der Gruppenvergewaltigung in den Schutz des Einen.

Danach geht es weiter mit der Persiflage auf absurde Ehr- und Rachebegriffe, korrupte Heldenverehrung und sinnlose Kriegsmaschinerie und führt zum bizarren Ende einer grotesk-zynischen Tragödie, in der Patroklos und Hektor, einer der mythischen Helden Trojas, kurzerhand umgebracht werden, sich Trojas Fall ankündigt und der Titelheld, Troilus, verraten und betrogen in Liebeskummer nach Rache schreit. Unbelehrbar fanatisch.

Intelligent und aufschlussreich sind dabei die Doppelbesetzungen: Die Anführer auf beiden Seiten, Priamos und Agamemnon, spielt Guido Lamprecht; die Rivalen um Helena, den Hahnrei Menelaos und den Entführer Paris, spielt Johannes Benecke und auch die trojanische Seherin Kassandra und der kluge griechische Narr Thersites werden von einer Schauspielerin, Yvon Jansen, dargestellt. Die Botschaft wird klar: Die Sinnlosigkeit betrifft alle.

Sanchez und sein Bühnenbildner finden für all das phantasievolle, burleske Bilder, lassen den Märchenwald kraftvoll kreisen und sich langsam entblättern, doch: was fangen wir heute damit an, mit der Entzauberung der griechischen Helden- und Götterwelt?

Brauchen wir drei Stunden Klamauk, sei er auch gut inszeniert, um die Sinnlosigkeit des Krieges, Männlichkeitswahn und Weiberuntreue  zu beklagen?

Shakespeares elisabethanischer Himmel ist götter- und heldenleer. Mit seiner satirischen, gelegentlich parodistischen Heldenverspottung will er die Homerschen Helden ihrer „erhabensten Verklärung“ und „glänzenden Harnische“ entkleiden und auf ein irdisches Maß bringen. Da drängt sich allerdings die Frage auf, ob es sich bei diesem Stück - trotz aller Leichen - überhaupt um eine Tragödie handelt oder vielmehr um eine bitterböse Kriegs-Komödie. Bei Shakespeares Zeitgenossen fand das sarkastisch satirische Stück wenig Interesse: vermutlich 1602 verfasst, kam es erst im Jahr 1679 zur öffentlichen Uraufführung - d. h. siebenundsiebzig Jahre nach der Entstehung und dreiundsechzig Jahre nach Shakespeares Tod. Und bis heute noch wird es relativ selten gespielt.

Die Ambivalenz des Stückes analysierte Heinrich Heine 1839 in „Shakespeares Mädchen und Frauen“ perfekt: „Troilus und Cressida ist weder Lustspiel noch Trauerspiel, dieses Stück ist Shakespeares eigentümlichste Schöpfung. In der Tat, es herrscht darin eine jauchzende Bitterkeit, eine weltverhöhnende Ironie, wie sie uns nie in den Spielen der komischen Muse begegnete. Es ist weit eher die tragische Göttin, welche überall in diesem Stück sichtbar wird, nur dass sie hier einmal lustig tun und Spaß machen möchte.“

Mag es sich bei Troilus und Cressida nun um eine jauchzende Tragödie oder weltverhöhnende Komödie handeln: Sie sollte einmal mehr von der Korrumpierbarkeit der Liebe und der zersetzenden  Sinnlosigkeit des Krieges berichten. Die Kölner Inszenierung schafft drastisch-bunte Bilder, um die „jauchzende Bitterkeit“ zu versinnlichen. Doch vieles gerät zur Karikatur. Es fehlt dem Ganzen an Kraft und dem Funkeln des Shakespeareschen Zynismus. Am Ende wabert Nebel auf. Man könnte glauben, es sei ein Märchenstück. Das hatte Shakespeare nicht gemeint. Freundlicher Applaus.