Die Blechtrommel im Theater Duisburg

Solo für Oskar

Schon einmal gastierte eine Dramatisierung von Günter Grass‘ Opus Magnum Die Blechtrommel in NRW. Bei der Ruhrtriennale 2010 war es: In der Jahrhunderthalle Bochum brachte der normalerweise beschwingt und humorvoll inszenierende Jan Bosse den Roman mit sieben Schauspielern des Gorki Theaters Berlin zur Uraufführung, die zwölf verschiedene Charaktere darstellten und gleichzeitig alle Oskar waren. Die sieben erzählten uns die Geschichte weitgehend dialogfrei; viel gespielt wurde nicht, und beschwingt war das Ganze auch nicht.

Jetzt erleben wir beim „Akzente Theatertreffen“ in Duisburg die ganz andere Fassung von Oliver Reese. Der hat mal am Gorki angefangen und zuletzt das Schauspiel Frankfurt zu wahrer Blüte gebracht. Die Blechtrommel lässt er durch einen einzigen Schauspieler spielen. Nico Holonics gibt den Oskar. Wenn erforderlich, erledigt er alle anderen Charaktere noch mit. Das dauert nur eine halbe Stunde kürzer als damals bei Bosse, und auf der Skala des Beschwingtheits-Indexes übertrifft Reese die Berliner Aufführung um Längen. Und das, obwohl die Dramaturgin Sibylle Baschung ihr dreiseitiges Mission Statement im Programmheft mit „Ohne Trost und Katharsis“ überschrieben hat.

Was ja irgendwie stimmt: Oskar Matzerath, vielleicht der berühmteste Kleinwüchsige der Weltliteratur, ist Zwerg aus Weltekel. Im Alter von drei Jahren stellt er das Wachstum ein. Und trommelt gegen alles an, was ihm zuwider ist. Wenn man ihn daran hindert, zersingt er Gläser. Kreativität und Destruktion liegen bei Oskar eng beieinander - was für eine monströse Figur in einem monströsen Roman! Den allerdings haben, hört man sich einmal im Duisburger Publikum um, gar nicht so viele Leute gelesen (und wenn, dann mehr als 65 Jahre nach seinem Erscheinen weitgehend vergessen). Von Bosses Theater-Inszenierung weiß kein Mensch mehr was. Aber an Volker Schlöndorffs Oscar-prämierte Filmfassung, mittlerweile ebenfalls 36 Jahre alt, mit dem grandiosen David Bennent als Blechtrommler, erinnern sich in Duisburg alle. Und so hat Reese schon mal eines richtig gemacht: Er jagt seinen Protagonisten in dessen zwei Stunden fünfzehn Minuten währendem furiosen Monolog durch ein Mix der berühmtesten Szenen aus Roman und Film. Alle bekannten Hits aus dem Ekel-Repertoire von Buch und Lichtspiel werden zum Vergnügen des Publikums zelebriert. Manchmal blättern wir im Geiste die Seiten des Buchs um, häufiger sehen wir David Bennent und seine großartigen Schauspieler-Kollegen von 1979 vor unserem geistigen Auge. Mutters Zeugung unterm Vierfach-Rock, das Glaszersingen (stimmlich eher angedeutet, aber von Parviz Mir-Alis großartigem Soundtrack mittels anschwellender elektronischer Musik suggestiv dargestellt), der Aal aus dem Maul des Pferdekadavers, die berühmte erotische Brausepulver-Szene mit Marie (manchem Zuschauer heute eher als Replay aus der Harald-Schmidt-Show bekannt) -  alles ist da, an was man sich erinnert, obwohl Reeses Textfassung angeblich nur etwa 60 der fast 800 Seiten des Romans umfasst.

Vor allem ist da auch: Bebra, der ernste, nachdenkliche, etwas altkluge Musical-Clown, der ebenfalls das Wachstum einstellte, wenngleich erst im Alter von zehn. Holonics‘ Darstellung erinnert deutlich an Fritz Hakl aus dem Schlöndorff-Film; packend sind die Bilder aus der Nazi-Zeit, die die Szenen mit Bebra evozieren: „Sie werden kommen, Oskar, und die Festplätze besetzen …“ Großartig, so sanft und gruselig wie ein Märchen erzählt Holonics die Geschichte der Reichsprogomnacht, als eine bedrohlich dunkle, poetische Erinnerung an eines der schrecklichsten Kapitel deutscher Geschichte – bei aller Poesie läuft dem Zuschauer ein Schauer den Rücken hinunter. Mit ganz einfachen Mitteln beschwört die Inszenierung in solchen Szenen das Monströse von Politik und Weltgeschehen und gibt dem Eskapismus von Oskar (und in anderer Form Bebra) eine Fundierung. Wobei Oskar den Eskapismus ja auch in eine subtile Form aktiven Widerstands zu überführen vermag, wenn er auf der Tribüne der NSDAP-Versammlung den musikalischen Ablauf der Veranstaltung mit Hilfe seiner Trommel manipuliert und dessen gewünschte Wirkung ins Gegenteil verkehrt. Bei der Begegnung mit Hitler läuft Mir-Alis Musik erneut zu großer Form auf: Ganz eigenständig interpretiert er die totalitäre Ästhetik, ganz ohne den bekannten Riefenstahl-Sound zu imitieren oder die kriegerischen Fanfarentöne der Nationalsozialisten zu zitieren.   

Im Abstand von fast drei Wochen – krankheitsbedingt schreibt der Rezensent diesen Artikel mit großer Verspätung – will die Erinnerung es kaum noch wahrhaben, dass Nico Holonics die Aufführung ganz allein gestemmt hat und alle Figuren des Romans selbst verkörperte. Variabel eignet er sich die unterschiedlichsten Charaktere an, bleibt jedoch als Erzähler immer er selbst. Mit expressivem Spiel und überraschend viel Humor wird die Grass’sche Romanhandlung wiedergegeben und interpretiert. In seinen stärksten Momenten verwandelt sich das Solo von Holonics in ein grandioses, düster-poetisches Wortkonzert. Sehr dominant wirkt zu Beginn die Headphone-Übertragung von Holonics‘ Worten – man muss sich zunächst an diese technische Überzeichnung gewöhnen, versteht jedoch bald, dass dieser inszenatorische Kniff dem manchmal kongenialen konzertanten Zusammenwirken von Sprache und Musik dient. Manchmal, wenn Holonics in dem die Bühne dominierenden überdimensionierten Stuhl sitzt, der den normal großen Schauspieler auf die 94 Zentimeter Körpergröße seines Oskar schrumpfen soll, wird seine Stimme überdeutlich ausgestellt und elektronisch manipuliert. Denn sie ist es, die Oskar ausmacht; sein Körper ist nur eine groteske, aber notwendige Hülle und die äußerliche Metapher für Oskars Verweigerung. Die Stimme, die Gläser zersingen kann, ist die Akteurin: Sie agiert, sie verweigert, sie zerstört. Reeses Textfassung und Holonics‘ Spiel sind sensibel und sprachmächtig, aber der Zuschauer wird nicht nur den Text verstehen, sondern mindestens gleichwertig die Stimme als wahrnehmen, die zur musikalischen Komposition gehört. Er wird sie hören, sie fühlen, ihr nachspüren. Und Holonics sehen, wie er tanzt, nein: hampelt auf der Bühne, wie er sich verausgabt, wie er sich einfühlt in den Text und gleichzeitig distanziert. Virtuos, diese Schauspieler-Leistung. Verdiente Standing Ovations.