Grandiose Romanadaption von Anna Seghers "Transit" bei den Duisburger Akzenten
Hoch oben unter dem Dach des Duisburger Theaters - etwa 90 Stufen hoch - gab es am Montag- und Dienstagabend eine grandiose Romanadaption von Anna Seghers Text Transit zu erleben. Die 100-minütige Inszenierung des Deutschen Theaters Berlin kam anlässlich des Kulturfestivals Akzente in die Revierstadt. Das am 26. Februar gestartete Kulturfestival steht in diesem Jahr unter dem Motto „Nah und fern - 300 Jahr Duisburger Hafen". Wunderbar, das Seghers - durch die anhaltende Flüchtlingskrise in Europa geradezu hochaktuell - in der südfranzösischen Hafenstadt Marseille spielender Roman den Weg nach Duisburg gefunden hat.
Der Roman wird dabei weniger gespielt, als vielmehr erzählt. Die Situation, der vor den Nationalsozialisten 1940 in den Süden Frankreichs geflüchteten Menschen, wird am Beispiel eines jungen Deutschen und einer jungen Französin lebendig. Thorsten Hierse erzählt als junger Deutscher, der aus einem französischen Internierungslager geflohen ist seine Geschichte und die der Französin Marie. Und zwar in der Rückblende „ganz von Anfang an". Dabei sitzt er zumeist auf einem Stuhl und schenkt sich immer mal wieder ein Glas Rosé-Wein ein. Ansonsten braucht Transit keine Requisiten.
Marie (Wiebke Mollenhauer) flitzt mal von links nach rechts, mal umgekehrt in einem luftigen Sommerkleid über die Bühne. Sie sucht ihren Mann, den sie in Marseille wieder treffen wollte und den sie täglich in der Hafenstadt erwartet, um mit ihm gemeinsam die weitere Flucht nach Mexiko zu unternehmen. Natürlich denkt jeder der Zuschauer beim Betreten des kleinen Theatersaals an die letzten Bilder der aktuellen Flüchtlingsströme an der Grenze von Griechenland nach Mazedonien, jeder hat die Schlagzeilen von der vermeintlichen Flüchtlingswelle oder -Flut im Ohr. Doch Regisseur Alexander Riemenschneider vom Deutschen Theater Berlin verzichtet in seinem Erzählstück auf jedweden Bezug zum hier und heute.
Das Publikum des jungen Mannes ist sein Gegenüber in einem Marseiller Café. Er erzählt seine Geschichte, die nur eine unter vielen, ähnlichen Geschichten ist. Es sind Flüchtlingsgeschichten, die hier in diesem Café in Marseille zusammenfließen. Geflohen aus Konzentrationslagern, Internierungslagern, Kliniken, aus Deutschland, aus Paris und anderen Städten, treffen die Menschen in Marseille ein, um mit einem Schiff nach Kuba, in die Vereinigten Staaten, nach Mexiko oder Martinique überzusetzen. Sie alle vereint das fortwährende Warten: Warten auf Visa, auf Geld und vor allem auf die Transiterlaubnis.
Hierse vermag es, allein über die Konzentration, einen leichten Duktuswechsel, Veränderungen der Mimik und des Blicks ins Publikum Figuren hinzutupfen. Er ist der Einzelne, zugleich ist er aber auch einer in einer Warteschlange eines Konsulats, er sucht nach einem Zimmer in Marseille, findet Kontakt zu einem Arzt, über den er Marie kennen- und lieben lernt. Auch der Arzt ist nur auf dem Sprung in Marseille. Wie alle Flüchtlinge, die in der Hafenmetropole nur so lange geduldet werden, wie sie nachweisen können, dass sie ernsthaft versuchen, einen Weg ins Ausland zu finden. Ein normales Leben, ohne ständige Abschiede, ein Leben mit einer Frau, bleibt dem jungen Mann versagt.
Im Hintergrund als dritte Person auf der Bühne sitzt Tobias Vethake live an einer Geräusch-Musik-Collage. Er erzeugt Stimmengewirr oder das Getöse von Krieg, den Lärm von Flugzeugen und Wagen deutscher Soldaten oder das Säuseln des Windes am Mittelmeer, Sirenen von Krankenwagen oder das Ablegen von Dampfern in eine mögliche neue Heimat. Ein berührender, ein spannender Theaterabend und ein in der Inszenierung lebendig werdender Roman von Flüchtlings-Schicksalen.
Die 1900 in Mainz geborene Anna Seghers emigrierte 1933 nach Frankreich, dann weiter nach Spanien und schließlich nach Mexiko. 1947 kehrte sie nach Berlin (Ost) zurück, wo die Schriftstellerin bis zu ihrem Tod 1983 lebte und arbeitete. Über Transit schrieb sie: „Dieses Buch ist in Marseille entstanden, in den erwähnten Cafés, wahrscheinlich sogar, wenn ich zu lange warten musste, in Wartezimmern auf Konsulaten, dann auf Schiffen, auch interniert auf Inseln, in Ellis Island in den USA, der Schluss in Mexiko."