Übrigens …

Stiller im Bochum, Schauspielhaus

Vom Hüpfen in ein anderes Leben

Die Bühne ist eine überzeugende Metapher. Man blickt in einen Gefängnishof; sechs abweisende metallene Türen und hohe, steile Fenster, die mehr einschüchtern als dass sie Licht einlassen, bilden die Kulisse für den Blick auf Stillers Leben. Später werden blecherne Lautsprecher vom Schnürboden hinuntergelassen, die wie eine Drohgebärde gegenüber dem Gefangenen wirken. Unvollständige Fetzen von Videos sind in den Fenstern zu sehen; hinter den schmalen Sehschlitzen der Türen verbergen sich nicht identifizierbare Gesichter stummer Beobachter oder Wärter. Es ist, als wäre Kafkas K. am Türhüter vorbei in das Innere des Gesetzes vorgedrungen, nur um sich dort erneut einer undurchschaubaren und abweisenden anonymen Macht gegenüber zu sehen. Auch bei Max Frisch wird nie wirklich klar, was dem Delinquenten eigentlich vorgeworfen wird – insofern finden sich tatsächlich überraschende Parallelen zu Kafka, auch wenn die Thematik des Werks der beiden Autoren eine durchaus unterschiedliche ist.

Stillers Welt ist in der Inszenierung von Eric de Vroedt am Schauspielhaus Bochum ein Gefängnis. Es könnte das Gefängnis der Identität sein, der Stiller alias White zu entfliehen sucht. Der Dramaturg Alexander Leiffheidt schreibt, im Vergleich zu sonstigen Gefängnissen sei „die Blickrichtung (…) hier umgekehrt. Der Blick wendet sich nach innen. Nicht der Einzelne kontrolliert die chaotische Masse, sondern die Masse, oder besser gesagt: die Gruppe kontrolliert den Einzelnen.“ Und die Gruppe schenkt ihm keinen Glauben. Denn „Ich bin nicht Stiller“, wiederholt der Mann immer wieder, als er von Gefängniswärtern in den leeren Raum geschoben wird. Der Augenschein spricht eine andere Sprache. Michael Kamp spielt den sturzbetrunkenen Untersuchungsgefangenen, der der Amerikaner James Larkin White sein will und gerade mit gefälschtem Pass unter whiskeytrunkenem Ohrfeigen eines Zöllners in die Schweiz eingereist ist. Auch nüchtern wird er darauf bestehen: Ich bin nicht Stiller. Dabei identifiziert ihn selbst seine ehemalige Frau Julika umstandslos mit jenem Bildhauer Anatol Ludwig Stiller, der seit fast sieben Jahren verschollen ist und mit dem sie einst verheiratet war. Michael Kamp aber ist laut Bochumer Besetzungszettel tatsächlich nicht Stiller: Er spielt White, ist im Hinblick auf seine behördliche Identität weiß wie ein unbeschriebenes Blatt, hat aber nach eigener Aussage rotes Blut an den Händen: Er war, so behauptet er, dereinst Verwalter einer riesigen Hazienda in Mexiko, hat angeblich drei Menschen ermordet, darunter seine Ehefrau und den Gatten einer Mulattin, die seine Geliebte war. Nichts lässt sich davon belegen, einiges scheint widerlegbar zu sein. White verwickelt sich in Widersprüche. 

Michael Kamp ist nicht Stiller – und ist es doch. „Wer soll das sein, dieser Herr Stiller?“: Kamps Frage an den freundlichen, ihn in seiner vorgeblichen Rolle als White akzeptierenden Gefängniswärter Knobel klingt ehrlich, und doch spürt man gleich darauf das Erwachen seines Interesses, als Knobel ihm von seiner Frau Julika berichtet. Gibt es da doch noch Erinnerungen an ein früheres Leben? Als ihm Fotos aus Stillers früherem Leben gezeigt werden, muss Kamp eine gewisse Ähnlichkeit anerkennen – dann strebt er fort von diesen Bildern, und es wirkt wie eine Flucht vor der Vergangenheit. - Es ist Max Frischs ewiges Spiel mit der Identität, das in seinem im Jahre 1954 erschienenen Roman thematisiert wird. Es ist die Frage, inwieweit die eigene Identität veränderbar ist, inwieweit der Mensch sich von seiner eigenen Identität zu distanzieren oder gar zu lösen imstande ist. Michael Kamp hat in Bochum ein Alter Ego: Damir Avdic. Exakt gleich gekleidet, in exakt gleicher Körperhaltung und Mimik, vielleicht ein wenig untersetzter gibt er: Stiller. Den ehemaligen Stiller, der in den – meist voll ausgespielten - Rückblenden auf sein Leben agiert, während Kamp ihm interessiert über die Schultern blickt. Die Doppelbesetzung bebildert Frischs zentrale Fragestellung, allerdings erscheint in de Vroedts Inszenierung von vornherein deutlich, dass White und Stiller dieselbe Person sind.

Die – zu Beginn so überzeugende – Metapher des klaustrophobischen Bühnenbildes, in dem White gelegentlich ruhelos im Kreis läuft, hat nicht nur Vorteile. Alle Rückblenden auf Stillers Existenz vor dessen plötzlichem Verschwinden werden ebenfalls in diesem Ambiente gespielt. Zwar war Stiller bereits vor seinem Abtauchen gefangen in einer unglücklichen Ehe, in seinen Versagensängsten und seinen unglücklichen Erfahrungen aus dem Spanischen Bürgerkrieg, und er verschwand nach einem Selbstmordversuch – insofern mag das Bühnenbild für den neuen und für den alten Stiller gleichermaßen metaphorische Bedeutung haben. Bei der Darstellung des früheren Lebens des Protagonisten engt das Bühnenbild allerdings die Fantasie des Zuschauers ein, beschränkt sie auf ein sachliches Nachvollziehen der Geschichte. Es ist bezeichnend, dass die intensivste und emotional berührendste Szene die einzige ist, in der sich die Gefängnismauern in die Lüfte erheben und den Blick freigeben auf Stillers ehemaliges Atelier. Zu leiser, harmonischer, fast kontemplativer Musik, die im Kontrast steht zur Kakophonie in der unmittelbar vorangehenden Szene blicken wir auf die von Stiller geschaffenen Skulpturen. White wird nun in die Enge getrieben – von Julika, die ihn und sein Werk erneut identifiziert, und von seiner Mutter, die ihn anherrscht: „Anatol, was soll das?“. Kamps White bricht nun zusammen. Sein „Ich bin nicht Anatol“ erscheint ein letztes, verzweifeltes Rückzugsgefecht. Das Gericht fällt das Urteil: „Der Angeklagte White ist identisch mit Stiller.“

Reto Fingers Bühnenfassung von Frischs Roman wirkt trotz zahlreicher musikalischer und videotechnischer Effekte über weite Strecken wie eine etwas forcierte Nacherzählung – und das, obwohl permanent sogar Tagebucheintragungen zum Bühnenleben erweckt und der eher sachlich wirkende Frisch-Text häufig in übermäßig aufgedrehter Form gespielt werden. Möglicherweise machen die Regie-Eingriffe den höchst reflektiert daherkommenden Roman auf der Bühne erst konsumierbar, aber zu selten gelingen Szenen, die aus Frischs Kopfgeburten lebendige Menschen werden lassen. Literarische Anspielungen sorgen für Vergnügen: Wenn der „Veteran“ im Lungensanatorium Julika seine Röntgenbilder zeigt, glauben wir uns in Thomas Manns „Zauberberg“ versetzt. Spannung erzeugen die Szenen, bei denen wir in Stillers Kopf blicken zu können glauben: wenn die Bediensteten im Gefängnis oder die Krankenschwestern im Hospital Stiller/White psychisch bedrängen, wenn die laute, kakophonische Musik Stillers Geisteszustand im Zusammenhang mit seinem Selbstmordversuch versinnbildlicht, wenn zuckende Videobilder die endgültig durcheinander zu geraten drohenden Hirnströme von White darzustellen scheinen, als dieser voll Wut und Verzweiflung auf den Tisch trommelt: „Ich weiß, dass ich nicht Ihr verschollener Stiller bin!“

Michael Kamp gelingt eine überzeugende Interpretation als flirrender, uneindeutiger White, dessen längst bewältigt scheinende Loslösung von seiner alten Identität in Gefahr gerät. Damir Avdic gibt den manchmal etwas ungeschickten und ich-bezogenen Stiller so, dass man glauben mag, dass die Ehe mit Julika schwierig wurde. Diese Julika ist bei Therese Dörr eine blasse, elegante Dame aus der Schickimicki-Welt, mal schüchtern, mal auftrumpfend. Auch Florian Lange überzeugt als einfach gestrickter, aber menschenfreundlicher und toleranter Gefängniswärter Knobel. Einen starken Eindruck hinterlässt Matthias Redlhammer, der den Staatsanwalt Rolf als ruhigen, ausgewogenen und integren Biedermann gibt, verlässlich und unaufgeregt selbst in Erinnerung an den Ehebruch seiner Frau. Er ist eine glaubwürdige, zeitlose Figur, mit beiden Beinen auf dem Boden stehend. Und so resümiert er im Schlusswort: „Man kann sein Leben doch nicht einfach beenden und in ein anderes hüpfen.“

Roman und Aufführung haben aber noch ein zweites Thema. Wie in so vielen betroffenen Ehen zerstören Krankheit (Julikas Lungenkrankheit) und Leid (Stillers Depressionen) die Paarbeziehung. Julika erkennt, was die meisten Paare nach dem Erkalten der großen Liebe irgendwann erkennen: Sie haben eine Projektion geliebt – ein Bildnis, das der Realität allenfalls teilweise entsprach. „Du sollst dir kein Bildnis machen“, ruft Julika entsetzt. Es ist das biblische Bilderverbot, fern von aller religiösen Konnotation angewandt auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Allzu oft versäumen es Paare, im Laufe ihrer Beziehung der asynchron verlaufenden Entwicklung des geliebten Menschen zu folgen. Es sei bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir am meisten lieben, am mindesten aussagen könnten, wie er sei, schreibt Max Frisch in seinen Tagebüchern. Das Geheimnis, das erregende Rätsel, das der andere sei, würden wir irgendwann müde auszuhalten. „Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose. Der Verrat.“

Rolf hat vielleicht ein Rezept gefunden, das er am Ende an Stiller weitergibt: „Ihr löst euch von der Vorstellung, den anderen verwandeln zu können. Ihr lernt, demütig zu werden gegenüber dem Wesen des anderen.“ Hüpfen in ein anderes Leben geht eben nicht – und Schubsen in eine andere Identität auch nicht. Eric de Vroedts Aufführung hinterlässt zwar einen ambivalenten Eindruck. Aber als Paartherapie könnte sie funktionieren …