Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui im Schauspielhaus Düsseldorf

Der Schlammgeborene

Was hatten die Düsseldorfer Bürgerinnen und Bürger für eine Angst vor dem interimistischen Umzug ihres Schauspielhauses ins CENTRAL! Sie fürchteten die miesen Gestalten in der Bahnhofsgegend, denen sie begegnen würden, sie fürchteten das hässliche Gebäude unmittelbar am Busbahnhof, und jetzt – gerade drei Wochen war die Neujahrsnacht her – war auch noch die Gegend vor dem linksrheinischen Hauptbahnhof der Unaussprechlichen 50 Kilometer flussaufwärts zur rechtsfreien Zone geworden, in der sich lauter orientalische Frauenschänder austobten. Am 22. Januar war Düsseldorf dennoch neugierig. Und traf in der ersten Premiere in der neuen Spielstätte auf: orientalische Gemüsehändler und Massen von miesen Gestalten. „Halben Weges zwischen Nacht und Morgen / Nackt und frierend zwischen dem Gestein / Unter kaltem Himmel wie verborgen / Wird der Himmel der Enttäuschten sein“, lauteten die ersten Sätze, die auf dieser neuen Bühne ertönten.

Und diese Bühne ist der Hit, wenn man das skeptische Düsseldorfer Publikum von den neuen Räumlichkeiten überzeugen will. Nicht weil sie besonders kreativ wäre, sondern weil sie den Zuschauern schlagend die erweiterten Gestaltungsmöglichkeiten der neuen Spielstätte vorführt, die größere Variabilität der rohen, fabrikartigen Halle im Vergleich zur Guckkastenbühne im elitären Schauspielhaus am Gründgens-Platz. Die Zuschauer werden auf vier Tribünen rund um die Agora platziert, auf der ein hochpolitisches Stück verhandelt wird. Stege sind kreuz und quer über die Bühne verlegt, die weit ins Publikum hineinreichen. Später wird an allen Ecken und Enden gespielt werden – aus dem Auditorium heraus, auf den Treppen, von der Oberbühne und dem Umlauf für die Techniker hinab, der mit Hilfe der Lichttechnik geschickt in die Gestaltung des Bühnenbildes einbezogen wird. Inzwischen ist das CENTRAL meist voll, und tout Düsseldorf weiß: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, Bertolt Brechts Parabel auf den – vom Dramatiker während des Dichtens noch für aufhaltsam gehaltenen – Adolf Hitler und die aktuellen Ereignisse im Nazi-Staat, wurde zum Höhepunkt der Düsseldorfer Spielzeit.

Heisam Abbas, ein gebürtiger Badenser mit sudanesischen Wurzeln, spielt den Arturo Ui. Wie er ihn spielt, ist ein Ereignis. Zu Beginn entwindet er sich als nackter, bloßer Mensch der Erde – schlammgeboren, nicht schaumgeboren wie Aphrodite, Hass und nicht Liebe über die Welt bringend. Er, der selbst aus dem Morast kommt, wird diese Welt in den Morast führen. Abbas macht nicht auf Adolf, sondern er findet für Brechts Gangsterboss, dem der Dramatiker nicht nur Charakterzüge des GröFaZ, sondern auch von Al Capone angedeihen ließ, eine ganz eigenständige Interpretation. Vor allem zu Beginn gibt Abbas den Parvenü, der ja auch Hitler war, einen imperfekten Streber eher als einen geborenen Führer. Der Ehrgeiz des Aufsteigers setzt schnell auch charismatische Eigenschaften frei, doch noch überwiegt die Unsicherheit, die Angst vor der eigenen Courage. Abbas zappelt, zittert, barmt. Das Barmende setzt Ui manchmal taktisch ein, das Zittern resultiert aus seinem Minderwertigkeitskomplex. Abbas gelingt es, dem finsteren Ganoven bisweilen sogar sympathische Züge zu verleihen. Er trägt einen schwarzen Anzug und schwarze Schuhe – das ist die Verkleidung des Mächtigen bis in heutige Tage. Aber Ui trägt keine Socken dazu. Er spreche schlecht, wird er sagen, daher müsse er Schauspielunterricht nehmen – wir kennen die Szene, in der er anhand des Monologs von Marc Anton aus Shakespeares Julius Caesar die Mittel der Rhetorik lernt. Bei Abbas klingt der Monolog, als sei er The King’s Speech entsprungen: Er spricht stotternd, ungelenk, verkrampft und steht dabei unbeweglich am Rednerpult, eine Statue aus kaltem Marmor. Später werden wir ihn in einem heißen Video im Stile US-amerikanischer Wahlkampfreden sehen, als einen Mann, der sich zu demjenigen stilisiert, der wieder Vertrauen, Ordnung und moralische Werte schafft. Abbas‘ Ui zeigt das Potential eines charismatischen Leaders und ist dann wieder ein armes Würstchen. Er gibt sich als buddhahafter, undurchschaubarer Erlöser, entwickelt eine beschwörende Sprache mit volltönendem, tiefem Bass, er kann schmeicheln. Er gibt sich unterwürfig und macht sich zur Marionette, um den alten Dogsborough für seine Zwecke zu korrumpieren – und formt Dogsborough dabei zu seiner eigenen, Arturos Marionette. Das Böse trainierend, verliert er bald alle authentischen Charakterzüge und wird zu einer perfekt schauspielernden Kunstfigur. Und zu einem immer skrupelloseren Verbrecher.

Volker Hesse hat einen hochspannenden Polit-Thriller inszeniert. Zu Beginn ist das Stück vor allem ein Korruptionsdrama. So sehr der furios aufspielende, wandlungsfähige Heisam Abbas im Vordergrund steht, so faszinierend ist auch die Entwicklung des Dogsborough. Der ehrliche Makler wird durch die allen Gepflogenheiten guter Corporate Governance Hohn sprechende, zu einem Spottpreis erfolgende Übertragung der Aktienmehrheit an Sheets Reederei korrumpiert. Bieder, ehrlich, aber ein bisschen senil startet Wolfgang Reinbacher in die Rolle: ein 1933er Hindenburg halt. Die Bestechung nimmt Dogsborough eher überrascht zur Kenntnis – noch scheint ihm das Ausmaß nicht klar zu sein, mit dem er sich in die Hände Uis begibt, noch begreift er nicht, dass man ihn auf illegale Pfade führt – aber bei Reinbacher schimmert ein Unwohlsein durch, dessen Ursache er sich kaum erklären kann. Kurz wird er wütend, als ihm die Sache dämmert – dann fällt er in sich zusammen. Ausdrucksvoll zeichnen sich Erkenntnis und Entsetzen auf seinem Gesicht ab, als er von Sheets Tod erfährt – doch er schweigt verdruckst, er bekennt sich nicht. Einst hat er sich instrumentalisieren lassen; jetzt lässt er sich vorführen. Als alter, nicht mehr handlungsfähiger Politiker wird er auf die Bühne geschoben – und taucht ein letztes Mal auf als in sich zusammengesunkener Helmut Kohl im Rollstuhl, als ein Mann, der über eine ganz eigene Art von Spendenaffäre gestürzt ist …

Auch die übrigen Schauspieler überzeugen: Andreas Grothgar, der in einer intelligent gedachten Doppelbesetzung sowohl den Sheet als auch den Untersuchungsbeauftragten in dessen Mordfall spielt. Sven Walser, der den Givola (Goebbels) gibt wie eine Ratte, die sich von den Abfällen von Uis Macht ernährt. Immer wieder sehen wir ikonographische Bilder und Metaphern, die die Relevanz des eigentlich veraltet geglaubten Stückes belegen: Dogsborough als Kohl im Rollstuhl, Sheet als Barschel in der Badewanne (Mord oder Selbstmord? Auch bei Barschel blieb diese Frage ungelöst). Ein großartiger orientalischer Markt mit Karfiol, Meze und Orangen bringt nicht nur Farbe in die Inszenierung, sondern auch die Erinnerung an die NSU-Morde an türkischen Gemüsehändlern. Selbst den zum Zeitpunkt der Premiere erst drei Wochen alten Skandal der Neujahrsnacht am Kölner Hauptbahnhof hat Hesse in die Inszenierung eingebaut. Schließlich werden Ui und der Führer des Karfioltrusts im Profil auf der roten Fahne porträtiert wie Marx und Lenin zu Vorwendezeiten. Zuvor hatte Ui seinen US-amerikanischen Videoauftritt: Alle politischen Systeme kennen sinistere Gesellen wie Al Capone Adolf Ui oder Giri Clark Givola …

Im Sinne Brechts, der gegen Gefälligkeit und Publikumsanbiederung das Spröde und Lehrstückhafte im Theater setzte, ist dies wohl eine schlechte Brecht-Inszenierung. Sie ist bunt, mitreißend, hochspannend und manchmal gar zirzensisch. Marodierende Banden ziehen durch die Lande, noch auf der Treppe des Hauses werden, im Video dokumentiert, prügelnd Schutzgelder eingetrieben oder mordend Zeugen beseitigt. Die Sopranistin Hildegard Kuhlmann singt Brecht-Texte wie den eingangs zitierten „Himmel der Enttäuschten“ und arienartige Vuletic-Musik. Chorisch singen die Repräsentanten des verbrecherischen Regimes Brechts „Großen Dankchoral“ - aber der klingt nicht fromm, und er klingt auch nicht nach Brecht / Weill, sondern nach Rammstein: „Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben“. Die Musik ist nahezu vollständig komponiert von Bojan Vuletic – und sie ist grandios, auch wenn sie empfindlichen Gemütern – wie die ganze überbordende Aufführung – auch manchmal zu laut und rockig ist. Insofern: Nein, anbiedernd ist diese Inszenierung auch nicht. Aber sie ist das krasse Gegenteil von spröde. Nur noch bis Anfang Juni 2016 im Spielplan - hingehen, bevor es zu spät ist!