Das Schicksal als Versuchsreihe
Das Düsseldorfer Schauspielhaus zählte in der Dekade von 1976 bis 1986 zu den künstlerisch bedeutendsten Bühnen im deutschsprachigen Raum. Günther Beelitz führte in diesen Jahren als Intendant die Düsseldorfer gleich zwölf Mal auf den Theater-Olymp. So oft durfte sich der seinerzeit nie selbst inszenierende Theaterchef über Einladungen zum Berliner Theatertreffen freuen. In der Spielzeit 1982/83 erhielt seine Bühne gar den Ehrentitel „Theater des Jahres“.
Darmstadt und München, Weimar und Heidelberg riefen den Erfolgsverwöhnten danach auf ihre Chefsessel. So war Beelitz bis 2005 35 Jahre lang Intendant. Als den danach freiberuflich Tätigen 2014 das finanziell wie künstlerisch am Boden liegende Düsseldorfer Schauspielhaus als rettenden Interims-Chef gewinnen konnte, schlugen dem bereits 75-Jährigen zumeist sehr kritische Stimmen entgegen. Doch Beelitz brachte das Haus wieder in die Erfolgsspur. Selbst die Notwendigkeit, das Haus am Gustaf-Gründgens-Platz wegen Umbauarbeiten verlassen und auf die Behelfs-Bühne „Central“ ausweichen zu müssen, konnte ihn nicht aus der Bahn werfen.
Ehe in der kommenden Spielzeit der Noch-Intendant Dresdens Wilfried Schulz das Ruder des Düsseldorfer Hauses übernimmt, griff der scheidende Hausherr noch einmal selbst in die Tasten: Er inszenierte Max Frischs Biografie: Ein Spiel und damit zugleich die letzte Premiere der Saison. Übrigens fand bereits die Deutsche Erstaufführung 1968 in Düsseldorf statt. Es ist „Ein Spiel“ im wahrsten Wort-Sinn. Ein Spiel, in dem Max Frisch die Möglichkeiten durchspielt, wie es aussähe, wenn man sein Leben noch einmal neu beginnen und damit ändern könnte.
Es ist der 26. Mai, 2 Uhr nachts. Hannes Kürmann, just zum Professor avanciert, hat ausgiebig mit Freunden gefeiert. Alle sind auf dem Weg nach Hause, fast alle. Eine ihm unbekannte Frau ist geblieben. Will sie bleiben? Wird sie nach einer Zigarette gehen? Antoinette Stein heißt sie, spielt mit ihren Reizen – und springt dem verführbaren Intellektuellen plötzlich hingebungsvoll in die Arme.
So fing es an „damals“. Später wurde sie sein Frau. Doch das „Spiel“ beginnt erneut, wird spannend. Denn wie vom Blitz getroffen, lässt er sie fallen. „Kann ich nochmal anfangen?“, fragt er zugleich ins Halbdunkel des coolen und streng in Schwarzweiß getauchten Bühnenbilds. Was wie die Theater-Probe daherkommt, gehört zum „Spiel“: Von nun an wird in zahllosen Szenen durchgespielt, ob sein Leben anders verlaufen wäre, wenn er Antoinette nicht geheiratet hätte. Kann man vermeintliche Fehlentscheidungen, kann man Weichenstellungen im Leben korrigieren? Natürlich nicht, wird sich zeigen. Selbst einem professionellen Verhaltensforscher wie Hannes gelingt das nicht. Da hilft auch ein „Registrator“ nicht, der immer wieder eingreift, um auf „Fehlentwicklungen“ aufmerksam zu machen. Der ist freilich Hannes` Alter Ego: Wie er gekleidet und mit glattrasiertem Schädel.
Immer wieder sind Szenen aus Hannes` Ehe mit Antoinette die Nagelprobe. Wäre sein Leben glücklicher verlaufen, wenn er sie nicht kennengelernt, wenn er anders gehandelt hätte?
Alle möglichen Konstellationen, der Ablauf der ersten Nacht, ein Treffen mit ihrem späteren Geliebten Egon, seine Auseinandersetzungen mit einem Uni-Kollegen und sein heimlicher Beitritt zur KP werden mehrfach und variabel durchgespielt. Selbst als er seine Frau aus Eifersucht erschießt, ist er auf dem falschen Weg: Sie steht wenig später wieder auf. Erst als sie das Heft in die Hand nimmt und auf Nimmerwiedersehen verschwindet, ändert sich sein Leben. Das reale.
Günther Beelitz` spielerisch leichte, nicht selten auch ironisch gebrochene Inszenierung – mit dem Registrator-Darsteller Dirk Diekmann hat er eine eigene Textfassung erarbeitet - wird bestens durch Heinz Hausers durchsichtiges, durch Spiegelung interessante Reflexe erzeugendes Bühnenbild unterstützt. So sieht man die handelnden Personen auch aus der Vogelperspektive. Ein riesiges Schachbrett verweist durchgehend auf das Vexier-„Spiel“. Und da Beelitz mit dem Trio Andreas Grothgar als Hannes, dem Registrator Dirk Diekmann und Katrin Hauptmann als Antoinette packend agierende Darsteller in diesem Spiel um Szenen und Worte aufbieten kann, darf das Premieren-Publikum im Central 1 den scheidenden „Notnagel“ auch voller Emphase feiern.