Ein Dokumentarstück als Stolperstein
„Der Regisseur Hans-Werner Kroesinger und die Dramaturgin Regine Dura haben aus Personalakten des Staatstheaters Karlsruhe rekonstruiert, wie antisemitische Diskriminierung und die Entlassung linker und liberaler Theaterkünstler*innen nach 1933 im Detail funktioniert hat,“ beginnt die Jurybegründung der Einladung des Dokumentarstückes Stolpersteine zum Theatertreffen 2016, das am 14. 4. 2016 im Düsseldorfer Schauspielhaus als Gastspiel aufgeführt wurde.
Pünktlich um 20 Uhr wird die Tür zur Kleinen Bühne geöffnet, man drängelt hinein, freie Platzwahl, doch dann geht es nicht weiter. Hundert Leute zusammengepfercht auf kleinstem Raum werden von den Stufen herab von vier gutgelaunten Schauspielern freundlich aufgefordert, doch noch etwas nachzurücken, da es im Central enger sei als im Staatstheater. Und dann fahren sie im gleichen Plauderton fort: „Kultur ist …, Kunst ist…“ - zunächst ganz unverdächtig, doch dann plötzlich die Anrede an uns: „Volksgenossen“. Sollen wir das sein? Jetzt kommt es knüppeldick: Kunst ist nicht international. Kultur ist national. Gleichschaltung. Zitiert aus den Anweisungen der Reichskulturkammer, 1933. Nach diesem bedrängenden Empfang dürfen wir weiter: an einem riesigen, fast schwarzen Tisch – der den vier Schauspielern (Veronika Bachfischer, Antonia Mohr, Jonathan Bruckmeier, Gunnar Schmidt) später auch als Bühne dienen wird - nehmen wir auf unbequemen Höckerchen Platz. Locker verteilt liegen Aktenordner, Schnellhefter, vergilbte Kopien herum. Dazwischen Warmhaltekannen, Kaffeeduft, Wasserflaschen: Arbeitsatmosphäre. Doch leider nur vier Tassen, nur für die wahren Akteure. Wir gehören nicht dazu. Was improvisiert wirkt, ist exakt inszeniert.
Ein Blick über die Tafel lässt erkennen, dass sie an beiden Enden abgewinkelt ist: die Form eines Hakenkreuzbalkens, ein halbes Nazisymbol. Projektionen auf riesigen Leinwänden an den beiden Längsseiten des Tisches und eine bedrohliche Soundkulisse schaffen beunruhigende Assoziationsmomente.
Die vier Schauspieler, in der großen Runde verteilt, greifen nach den herumliegenden Papieren, lassen sie kursieren und beginnen scheinbar wahllos daraus zu lesen. Wir hören Passagen aus alten Personalakten des Karlsruher Staatstheaters, aus Zeitungsberichten, Flugblättern, Gesetzes- und Propagandatexten und immer wieder aus den Briefwechseln zwischen bedrohten aber auch ahnungslosen Bittstellern und bürokratisch-unverbindlichen, scheinbar sachlichen und formal korrekten Behördenschreiben. Es wird wenig kommentiert, nur gelegentlich dialogisch oder szenisch aufgelöst. Dann schlüpfen die vier Darsteller*innen aus ihrer Rolle der aktenwälzenden Rechercheure kurzerhand in die der Betroffenen.
Es geht um eine Ermittlung in eigener Sache: Was geschah nach der Machtergreifung am Staatstheater? Was geschah mit den jüdischen Schauspieler*innen, mit der Souffleuse, der Soubrette Lilly Jan, den technischen Mitarbeitern, dem Intendanten, die entweder offiziell entlassen, nicht mehr besetzt oder ganz einfach von einem Tag zum anderen nicht mehr gesehen wurden? Die verjagt, verhaftet, deportiert, in Verzweiflung, Emigration oder Suizid getrieben wurden? Aus der akribischen Recherche fokussiert die Dokumentation auf vier Schicksale, die exemplarisch rekonstruiert, memoriert und entfaltet werden. Dabei fügen sich private Texte und ergreifende Hilferufe mit sachlich unaufgeregt vorgetragenen Aktennotizen oder bis zur Komik aufgeblähten rechtsstaatlich kaschierten Gesetzespassagen zu den unterschiedlichen Personenporträts zusammen. Dazwischen sehen wir angespielte Szenen aus dem völkisch umgedeuteten Bühnenrepertoire, das Kleist und Goethe vereinnahmte. Wir sind bestürzt von der Banalität des Bösen.
Doch dann gibt es auch Längen: da werden seitenweise Fragebögen verlesen, Briefwechsel zur Kostenerstattung zitiert und Umzugsprobleme ausgebreitet, die in der Akribie eher unaufmerksam als betroffen machen. Künstler- und Straßennamen fallen, die für das Karlsruher Publikum Assoziationen wecken, nicht so für das Düsseldorfer. Da ist man dann nach 90 Minuten erleichtert, dass man die ungemütlichen Hocker verlassen und auf Treppenstufen umziehen darf.
Aus der scheinbaren Arbeitsrunde wird Frontaltheater, das in der Gegenwart ankommt. Es wird umgeräumt, aus der großen Tafel entstehen Tischgruppen, auf denen wir Zuschauer nach der Aufführung Akteneinsicht nehmen und mit den Akteuren diskutieren können. Doch so weit sind wir noch nicht: um einen der Tische sammeln sich die vier Darsteller und aus einem hektischen Stimmengewirr schälen sich deutlich hörbar wiederholt die Worte PEGIDA und AFD heraus. Nur eine Episode. Aber ist das nötig? Braucht der Zuschauer diese Holzhammermethode? Da hätten die Autoren getrost auf die Kraft ihrer Dokumente und Arrangements und vielleicht auch auf die Intelligenz der Zuschauer vertrauen können. Und dann wird zum Schluss ein Interview aus dem Jahr 1986 mit der ehemaligen Staatsschauspielerin Lola Ervig nachgespielt, in dem die alte Dame mit einer unsensiblen Formulierung peinlich vorgeführt wird. Ist das nötig?
Die Stückentwickler des Dokumentarstücks Stolpersteine wollen mit ihrem Stück einen eigenen theatralischen Stolperstein legen. Das gelingt ihnen. Gegen Ende heißt es man wird sich erinnern, dass man sich erinnert hat. Aber auch die Stolpersteine auf den Straßen Karlsruhes werden im Stück benannt, zwei davon liegen vor dem Staatstheater.
(Zur Ergänzung: Auch in Düsseldorf liegen über 260 Steine. Seit dem Beginn dieser Kunstaktion des Kölner Künstlers Gunter Demnig im Jahr 1992 wurden europaweit mehr als 56 000 Gedenksteine verlegt.)