Dem Leukämie-Tod von der Schippe gehüpft
Am 2. April wurde der FDP-Politiker Guido Westerwelle auf dem Kölner Melatenfriedhof beerdigt: er hatte den Kampf gegen seine Leukämie-Erkrankung verloren. Just am gleichen Tag bzw. Abend fand im Freien Werkstatt Theater die dritte Vorstellung von Akin E. Sipals Santa Monica statt, ein Drama über den Blutkrebs, welches allerdings glücklich ausgeht. Bei der Mannheimer Uraufführung im März 2015 wurde dieses „happy end“, wie zu lesen war, gleich zu Beginn angedeutet, so dass der emotionale Horrortrip der mitleidenden Familie (neben den Eltern noch ein älterer Bruder) ein wenig gemildert wurde und vom Publikum weniger schmerzhaft verfolgt werden konnte.
Akin E Sipal wurde 1991 in Essen geboren, besitzt aber – wie sein Name unschwer erkennen lässt – türkische Wurzeln; er wuchs teilweise in Istanbul auf. In Hamburg absolvierte er ein Studium an der Hochschule für bildende Kunst. Sein erstes Theaterstück heißt Vor Wien und gewann den Wettbewerb „In Zukunft“. In Arbeit ist momentan Kalami Beach, Premiere wiederum in Mannheim (Spielzeit 2016/17). Im Entstehungsjahr von Santa Monica kam in Bremen weiterhin der Liederabend Istanbul (!) heraus.
Santa Monica in Kalifornien ist nota bene das Endziel einer langen Reise, welche die Familie unternimmt, um für den erkrankten Jungen Hilfe zu suchen. Tatsächlich taucht irgendwann eine Knochenmark-Spenderin auf. Doch gegen einen glücklichen Verlauf bäumt sich das Schicksal nochmals auf. Das übertragene Knochenmark wird vom Körper des Patienten nicht angenommen, es findet eine Art innere Verbrennung statt („Brandrodung am Kind“, wie es der Bruder ausdrückt). Schließlich beginnt aber doch ein langsamer Heilungsprozess.
In rund 75 Minuten zieht der Autor mit dringlicher Bildsprache den Zuschauer in das Leiden der Familie hinein. Beklommen machen vor allem die Reaktionen der Mutter, die sich zunächst hemmungslos ihrer Trauer hingibt, bis sie zu einem „Kampfhubschrauber aus Fleisch und Blut“ wird und mit ihrer Hoffnungsenergie auch den eher zurückhaltenden Vater und den Bruder mitreißt.
Sipal hat kein traditionelles Dialogstück geschrieben, sein interpunktionslos verfasster Text (Zitate auf dem Programmzettel) dürften für die die Darsteller nicht leicht zu lernen sein – und sind für den Zuhörer auch nicht immer leicht konsumierbar. Anne-Kathrine Münnich, welche an der Essener Folkwang Universität der Künste Regie studiert, lässt „brave“ Konversation nicht zu, überführt Sipals ohnehin sehr individuelle Sprache in ein hektisches, zirzensisches Bühnenspiel, welches mitunter befremdet. Die Schauspieler sprechen vielfach plakativ ins Auditorium. Nicht bei allen wirbelwindigen Regieeinfällen lässt sich Sinnfälliges ausmachen, oft scheint es, als sei der Regieehrgeiz mit Anne-Kathrine Münnich durchgegangen. Vorteilhafter formuliert: ihre Inszenierung deckt sich mit dem Ansinnen des Autors, das gewählte Thema nicht in Tränen ertrinken zu lassen und komödiantisch aufzuwirbeln.
Blickfang auf der weiten kahlen Bühne von Johanna Meyer und Mirjam Pajakowski ist zum einen ein Haufen von bunten Plastikklötzchen, die zuletzt zu einem Weihnachtsbäumchen zusammengesteckt werden (Ironisierung von Glück?), zum anderen ein orientalischer Hausaltar. Hin und wieder flackert das Licht; es wird nicht klar warum. Alle Darsteller werfen sich mit Inbrunst und Energie in ihre Aufgaben: Fiona Metscher (Mutter), Valentin Stroh (Vater), Christoph Bertram (kleiner Bruder/Patient), Moritz Heidelbach (großer Bruder). Am Schluss zunächst ratloses Schweigen des Publikums im Dunkel, dann animierter Beifall.