Viictor oder Die Kinder an der Macht im Köln, Schauspiel

Victor - A Star is born

Das bürgerliche Schauspiel Victor oder Die Kinder an der Macht von Roger Vitrac wurde 1928 in der Inszenierung von Antonin Artaud uraufgeführt. Aber erst mit Jean Anouilns Wiederentdeckung und erfolgreicher Neuinszenierung 1962 eroberte die Geschichte um den neunjährigen Victor auch die deutschen Bühnen. Das Publikum reagierte teils geschockt, teils begeistert.
Victor Paumelle, „schrecklich intelligent“, hat Geburtstag. Er ist entschlossen, „kein Jahr länger zu warten, um ein Mann zu werden“. Seine Eltern, Charles und Emilie, haben zu Ehren ihres Sohnes, der bislang ein wahrer Musterknabe war, zu einer Party eingeladen. Victor will „etwas Neues“ sein und was das ist, demonstriert er, unterstützt durch seine sechsjährige Freundin Esther, im Laufe der Geburtstagsfeier den Eltern und den Gästen: Esthers Eltern, dem Freund der Familie, General Etienne Lonsegur, der rätselhaften Besucherin Ida Totemar und dem Dienstmädchen Lili. Sie alle werden Zeugen und Opfer seiner monströsen Lust an der Zerstörung und der Provokation seiner Umwelt. Am Ende der Feier ist ein Weiterleben wie zuvor unmöglich geworden, hat das Kind Victor doch die Abgründe hinter der verlogenen Fassade kleinbürgerlichen Lebens unerbittlich entlarvt. Hans Neuenfels beschreibt das treffend: „Victor ist die Abrechnung mit dem, was wir lieben…. Unsere Sucht nach heiler Welt“. Er erwähnt die Metapher „Schoß der Familie“, die für Geborgenheit und Heimat steht. In Vitracs Schauspiel wird diese Metapher jedoch zerstört: „Die Familie entpuppt sich als beschränkte und verrottete Bande“.
Der Autor selbst beschrieb Victor als „Mythos von der frühreifen Jugend“, als „verzerrtes Versprechen des genialen Kindes“.

Moritz Sostmann inszenierte „Victor oder Die Kinder an der Macht“ am Schauspiel Köln. Übergroße rote Türen rahmen die Spielfläche ein. Victor (famos variantenreich: Johannes Benecke) muss sich schon strecken, um sie zu öffnen. In seinem braven weißen Anzug mit schwarzen Kniestrümpfen und mit Brustbeutel sieht er noch wie der Musterknabe aus, der er bis zum heutigen Geburtstag war. Schon zu Beginn terrorisiert er Lili, das Dienstmädchen (Lou Zöllkau). Esther (Magda Lena Schlott), seine Freundin, ist nicht minder durchtrieben und gemein wie Victor, obwohl sie ab und an auch naiv und kindlich erscheint. Beide beherrschen das Lügen- und Vertuschungsvokabular der Erwachsenen schon ziemlich perfekt. Altklug palavern sie, bekommen Jähzornsanfälle und spielen „Mama und Papa“, wobei sie die heimliche Affäre zwischen Victors Vater (Jakob Leo Stark) und Esthers Mutter (Sabine Orléans) so ganz „unabsichtlich“ ans Tageslicht bringen.

Auch wenn es manchmal ruhigere Momente in der Inszenierung gibt, so gerät die Welt doch insgesamt mehr und mehr aus den Fugen. Ob es neckische Spiele mit aufblasbaren Sitzgelegenheiten („Reise nach Jerusalem“) oder im Schlafzimmer des Ehepaars Paumelle sind oder die einzelnen skurrilen Charaktere wie der General (Philipp Pleßmann), dem Victor die Pistole stiehlt. Oder die Eltern von Esther: Mutter Thérèse fühlt sich „gemobbt“, Vater Antoine (Sean McDonagh) verliert immer mehr den Bezug zur Wirklichkeit. So steht er einmal auf dem Klavier und faselt von der Weltrevolution.

Sostmann arbeitete bisher in Köln oft in beeindruckender Weise mit Puppen. In „Victor“ sehen wir nur am Ende eine übergroße Puppe, die Victor ähnelt, auf dem Bett liegen. Victor selbst steht hinter einer Tür, beobachtet die Szene und gibt Geräusche von sich. Schließlich stellt er lakonisch fest: „Ich sterbe am Tod.“

Es ist ein amüsanter Abend mit einem sehr guten Ensemble. Einige bemühte Aktualisierungsversuche wie zum Beispiel der Hinweis auf Guantanamo sind unnötig. Wohl hat sich die Gesellschaft seit der Entstehungszeit des Stückes geändert. Bissige zwischenmenschliche Differenzen, unfreiwillig komische bis erschreckende Machtspielchen zwischen Eltern und insbesondere verhätschelten Einzelkindern – das ist nach wie vor aktuell.