Schmerz, Verzweiflung und Katharsis
Wieder einmal Leonce und Lena also, Georg Büchners einzige Komödie. Furchtbar albern sei die, sagen manche – vor allem diejenigen, die ein wenig oberflächlich draufgucken und sich an der frühkindlichen Lust des Dramatikers an der wonnigen Namensgebung der Königreiche Popo und Pipi stoßen und die in König Peter (aus dem Reiche Popo) eine Figur erkennen, die eher der Augsburger Puppenkiste als dem Hirn eines revolutionären Polit-Literaten entsprungen scheint. Und dann gibt es die anderen, zu denen sich der Komödien eher abholde Rezensent zählt, die das Stück schätzen: nicht nur wegen der so amüsanten wie bissigen Politkritik, sondern vor allem wegen seines absurden, manchmal geradezu nihilistischen Humors, der sich aus einer Mischung aus Dada, Surrealismus und Popart zu speisen scheint und damit seiner Zeit weit voraus ist. Last, but not least gibt es Björn Gabriel. Der findet, das Stück sei gar keine Komödie, sondern eine Dystopie.
Und so untersucht Gabriel in seiner Inszenierung am Schlosstheater Moers die Bedeutung, die die 180 Jahre alte Polit-Satire über Kleinstaaterei und dekadenten, geistig hohlen Adel für unsere Gegenwart hat. Er versucht, Büchners Systemkritik an einer von der unsrigen scheinbar grundverschiedenen Gesellschaft ins 21. Jahrhundert zu übersetzen. Das Programmheft geht allerdings zunächst einmal weitere 170 Jahre hinter die Entstehungszeit zurück und zitiert Blaise Pascal: „Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuungen, ohne Beschäftigung.“ Wir erinnern uns: In einer solchen Situation befanden sich Leonce und sein regierender Vater Peter. Keine Sorge: Von vollkommener Ruhe und Mangel an Zerstreuung wird in Gabriels eineinhalbstündiger Inszenierung nichts zu spüren sein. Da dreht sich die Mühle des Lebens (ja: sogar eine kleine Drehbühne hat es mittlerweile ins verliesartige enge Schlosstheater geschafft), und Tempo und Ideenreichtum der Aufführung könnten uns schon mal ebenso in die Überforderung treiben wie es die Komplexität der globalisierten Gesellschaft mit den heutigen politischen Nachfolgern von König Peter tut. Langweilig wird es jedenfalls keine Sekunde.
Das alles beginnt nicht wie das 19. oder 21. Jahrhundert, sondern eher wie Alan Parsons und Edgar Allen Poes Tales of Mystery and Imagination. Hinter einem Baugerüst, das an diesem Abend die Spielfläche bildet, zeigen auf einer großen Videowand düster-romantische Bilder einen Friedhof oder eine verwunschene Heidelandschaft; Blitz und Donner wüten bei Nacht, und in den Regen mischt sich Rockmusik. Es erscheint: Frank Wickermann, gefühlt seit dem Beginn der Geschichte des modernen Schauspiels erster Schauspieler am Schlosstheater und Anchor Person für die langjährigen Moerser Zuschauer. So alt wie er aussieht, könnte das mit dem Beginn der Geschichte des modernen Schauspiels stimmen: Was für eine Horrorfigur steigt da aus ihrem Grab! Es ist der „Elder Statesman“, wie wir bald erfahren werden, die Verkörperung aller Obrigkeit, sei es bei Georg Büchner, im Mittelalter oder im 21. Jahrhundert. Im Mikrokosmos von Leonce und Lena heißt das: die Verkörperung von König Peter, Hof- und Zeremonienmeister, Staatsratspräsident und welchen anderen staatlichen Würdenträgern auch immer – sie alle sind gestrichen. So verlebt wie der Knabe aussieht, bekommt es schon etwas von unfreiwilliger Ironie, wenn der Elder Statesman fordert, man müsse „auch mal verlieren können für das große Ganze“. Wickermann lässt sich dafür irgendwann sogar kreuzigen, was unserer Angie vermutlich nicht einmal die Pegidas antun würden. – Noch ist Wickermann aber beim Theater im Theater, das in Gabriels Büchner-Dekonstruktion keine unwesentliche Rolle spielt. Er schwadroniert vom Darstellungs- und Kulturbeamten, der ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden solle, fordert uns (oder seine Mitspieler?) auf, den „Kern des angeblichen Lustspiels“ zu finden („den Schmerz, die Verzweiflung, die Katharsis“) und spottet über Büchner als Weltliteratur mit der Bemerkung „The Survival oft he Hippest“. Freunde des gediegenen klassischen Schauspiels merken: Sie machen besser einen großen Bogen um den Moerser Schlosspark. Doch wer das Verlies betritt, wird das alles wiederfinden: Schmerz, Verzweiflung und Katharsis. Mal albern, mal in einer Horrorfilm-Ästhetik, mal bemerkenswert intelligent. In der Summe sogar: ziemlich anspruchsvoll, doch unterhaltsam.
Erst einmal aber halten wir es mit Matthias Heße: „Endlich ist er weg“, sagt der, als Wickermann vorerst den Rückzug antritt, und begibt sich in seine Rolle als Leonce. Der Müßiggänger streckt sich hin wie Goethe in der Campagna. Goethe? Naja, der lag bei Tischbein nicht ganz so bequem, kommt aber bei Gabriel tatsächlich bald vor: als Valerio nämlich aus dem Faust zitiert oder der Elder Statesman nach dem „Geist, der stets verneint“ sucht. Valerio beherrscht den Perspektivwechsel: Er stellt sich dann einfach auf den Kopf, doch siehe da: Der Hintergrundprospekt mit einem feudalen Schloss dreht sich einfach mit. Perspektivwechsel für hohle Hirne ist nicht so einfach; für Geister, die vor Ideenreichtum und Kreativität platzen, dagegen schon: Anstelle des Schlosses werden wir später auf der Videowand eine kahle, fast apokalyptisch anmutende Industrielandschaft sehen. Irgendwann wird Wickermann das finstere Märchen aus dem Woyzeck zitieren; wir hören Bruchstücke aus der Büchnerpreis-Rede von Alexander Kluge und anderes mehr. Freunde des gediegenen klassischen Schauspiels merken schon: Hier wird nicht nur gealbert und dekonstruiert, hier wird auch bildungsbürgerlich zitiert und mit Metaphern um sich geworfen.
Heßes Leonce ist alles andere als ein klassischer melancholischer Jüngling. Seine Depression ist extrovertiert, seine Melancholie ist laut. Verschärft wird im Vergleich zu Büchners Text die Demütigung Rosettas. Leonce lässt sie tanzen wie eine Marionette – und wird am Ende selbst zu einer solchen werden. Rosetta (Frank Wickermann wird degradiert zur unglücklichen Ex-Freundin des Titelhelden) wird gehetzt von einem wütenden, lauten Willkür-Herrscher, einem absolutistischen Tyrannen – die Inszenierung deutet hier das heute noch aktuelle Thema des Missbrauchs von Macht an. Marissa Möller als Lena gelingt der Transfer der Wut ihrer Figur auf heutige Verhältnisse nachvollziehbarer als Leonce, wenn sie sich zum Beispiel gegen „okzidentalische Zwangsverheiratung“ aufbäumt oder anprangert, man sei „gezwungen ein Leben lang“ und opfere Verstand und Gefühl für Erfolg und finanziellen Status. Anhand des Müßiggangs im Reiche Popo eine Anklage der „Geißel der Erwerbsarbeit" formulieren oder den Widerstreit von Fremdbestimmung und eigenem Willen diskutieren zu wollen, wie es der Regisseur Gabriel vor der Premiere einmal angekündigt hat, wirkt doch arg bemüht.
Man „sollte … das Drama seit der Erfindung der Fernbedienung anders denken“, hatte Gabriel bei Probenbeginn in einem Interview mit trailer-ruhr.de gefordert. Tatsächlich hat seine zwischen Büchner-Text, Mythenmotiven und aktueller Gesellschaftskritik hin- und herzappende Inszenierung eine eigenwillige, wenngleich manchmal faszinierende Ästhetik. Bösartig könnte man sie wie folgt zusammenfassen: Tolle Musik, überwältigende Bilder, ziemlich krause Handlungsführung. Musik und Rhythmus passen perfekt zur manchmal poetischen, viel häufiger aber wütenden Sprache der Inszenierung. Wer immer strebend sich bemüht, blickt durch und vermag auch Gabriels wild durch die Zeiten rockende Gedankengänge zu entwirren. Für jeden ist was dabei: Pathos, Ironie, Splatter, Büchner, Wut und Trash. Großartig sind die Videos; einige Szenen werden von der uneinsehbaren Hinterbühne per Live-Kamera auf die Videowand übertragen. Man spürt das große Vorbild: Gabriel ist im Hauptberuf Schauspieler am Theater Dortmund, wo der Intendant Kay Voges seit Jahren mit der Verschmelzung von Bühnenschauspiel und Film experimentiert.
Aber kann es denn sein, dass sich eine Aufführung von Leonce und Lena ausschließlich auf Gesellschaftskritik und ästhetische Innovation beschränkt? Ist die Büchner-Komödie nicht auch eine Liebesgeschichte? Ach ja, die Liebe – sie kommt ja schon bei Georg Büchner nicht gut weg. „Der Weg zum Narrenhaus ist nicht so lang, er ist leicht zu finden“, ruft Valerio dem endlich sich sehnenden Leonce ironisch zu. In Moers schauen sich Valerio und Lenas Zofe Valeria die schönsten Küsse der Filmgeschichte an. Damit der Spötter Valerio bekehrt wird? Die Film Session könnte eher zur endgültigen Desillusionierung führen. - Lena macht derweil Spiegeleier. Statt Schmetterlinge gibt’s Strammen Max im Bauch. Man sinkt schnell wieder hinab ins Alltagsleben. „Manchmal muss man Opfer bringen für das Ganze“, sagt Wickermann in der Wiederholung der Anfangs-Szene. Das gilt wohl auch für die Liebe. Am Kreuz hängend, verlangt der Elder Statesman „wenigstens etwas Schönes“: die Hochzeit. Wie hatte es zuvor geheißen: Man zwingt uns in Konventionen. Leonce und Lena verkleiden sich bei Büchner als „weltberühmte Automaten“ – in Moers werden alle zu Automaten, „gezwungen ein Leben lang“. Jegliche Auflehnung ist zwecklos. Die Mühle des Lebens oder, wie der Regisseur es ausdrückt, die Mühle der Repräsentation dreht sich weiter.