Die Gleichzeitigkeit von Obstgärten und zerstörerischen Vulkanen
Vermutlich war auch Kay Voges im August 2013 bei der Ruhrtriennale ein Cheerleader des FC Bergman. In einer faszinierenden, ungeheuer suggestiven postdramatischen Performance hatte das belgische Theaterkollektiv die bigotte Welt eines trostlosen, in den Ritualen eines fundamentalistischen Glaubens verwurzelten Dorfes in unser Langzeitgedächtnis gestanzt. Ein Kamerawagen umkreiste unermüdlich die zahlreichen archaischen Hütten, die über keine Rückwand verfügten, so dass die Kamera das dumpfe Leben der von den Zuschauerplätzen aus kaum sichtbaren Dorfbewohner einfangen und in gestochen scharfen Crewdson-Bildern auf große Videowände übertragen konnte. Erst spät wurde die religiöse Konnotation von 300 el x 50 el x 30 el deutlich.
Unabhängig davon, ob Voges das damals gesehen hat oder nicht, musste der seit Jahren in unterschiedlichster Form mit der Verschmelzung von Bühnen-Schauspiel und Film experimentierende Kay Voges bald auf eine ähnliche Idee der Darstellung verfallen. Die Ausweich-Spielstätte in der riesigen Halle des ehemaligen BVB-Megastore, die das Theater für die Dauer des Umbaus seiner Werkstätten bezogen hat, bietet nun die Gelegenheit zu einer so eigenwilligen Aufführung wie sie auf der Dortmunder Guckkastenbühne kaum möglich gewesen wäre. Das Religiöse steckt schon im Titel, und es steckt auch in der Form: Bei der Borderline Prozession handelt es sich um ein Triptychon, das so etwas wie These, Antithese und Aufhebung in einer allerdings recht fragwürdigen Synthese darstellt. Immer wieder ziehen sich religiöse Motive durch die Bilder, die Musik und die vom Band gesprochenen oder auf großen Bildschirmen eingeblendeten Texte. Doch Voges sowie seine Ko-Autoren Dirk Baumann und Alexander Kerlin schauen sich nicht ein Dorf mit sektenartiger Bigotterie an, sondern sie betrachten eine ganze Welt. Unsere Welt: in all ihrer Banalität und in all ihrer Komplexität. Sie schauen auf den dumpfen Alltag und die jahrhundertelange Prägung durch widersprüchliche Philosophien, auf unsere persönlichen und politischen Krisen, auf Hass und Sehnsucht, Tod und Erlösung. Auf Krieg und Frieden – und auf die Gleichzeitigkeit von allem, besser ausgedrückt: die Gleichzeitigkeit des Ungleichen, Ungleichzeitigen. Voges erklärt die Welt mit Hegel und Tocotronic, mit Andre Breton und David Bowie, mit Brecht, Bibel und John Cage. Was Voges versucht, ist größenwahnsinnig und eine grenzenlose Überforderung. Doch was Voges gelingt, ist zumindest im Zentrum der Aufführung ein grandioses Totaltheater, ein phantastisches Abbild der Komplexität und der Undurchschaubarkeit unseres Seins.
Die Prozession: Es ist nicht nur die Kamera, die hier um die Häuser zieht, sondern es ist phasenweise das gesamte Ensemble inklusive einiger Techniker und Schauspielstudenten. „Give me the words that tell me nothing … that tell me everything“, singen sie in religiöser Andacht. Voges wird uns nicht nur Worte, sondern vor allem Bilder geben that tell us nothing, that tell us everything. Dank der Kamera können wir in die Zimmer schauen – von vorn, manchmal von hinten oder von der Seite. Aber wir können auch herumgehen, wenn wir nicht gerade die Prozession stören; jeweils zu Beginn von Teil zwei und drei des Triptychons werden wir sogar aufgefordert, unsere Plätze zu wechseln. Und so sehen wir mal die biedere Fassade, mal die raue oder abgründige Rückseite des Lebens all dieser Figuren, die die von Bühnenbildner Michael Sieberock-Serafimowitsch entworfene US-amerikanisch anmutende Villa bevölkern. Eine Villa mit Garten und Swimmingpool, mit Küche, Wohn- und Schlafzimmer, Bad und Toilette sowie Dachterrasse auf der einen Seite, mit einem Leseraum und einem SM-Studio, einem Kiosk und einer Garage, vor der ein angegammelter Plymouth Vovager noch seiner grausamen Nutzung zugeführt werden wird, auf der anderen Seite. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, klingt beschwörend die Schöpfungsgeschichte vom Band, „die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut …“ – Nach und nach wird die Schöpfung vollendet; die Schauspieler belegen die Zimmer. Ordnung zieht ein in die Urflut - und das heißt für Voges: Grenzen werden gezogen: Zimmerwände oder Gartenzäune – und später virtuelle und faktische Grenzen zwischen den Kulturen. “Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut / In der wir untergegangen sind / Gedenkt / Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht / Auch der finsteren Zeit / Der ihr entronnen seid“: Wieder und wieder werden wir Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ hören.
Da man nicht überall anwesend sein kann, macht die – während des Spiels dann häufig doch auf den Kameramann und seine Gehilfen reduzierte – Prozession schon Sinn. Doch auch die Kamera projiziert stets nur Ausschnitte des Geschehens auf die Videobildschirme, andere Perspektiven als sie dem Zuschauer an seinem Sitzplatz zur Verfügung stehen. Sie ziehen vorüber, perfekt ausgeleuchtet, manchmal durch Lichteffekte aufgehübscht oder -gegruselt. Auf den Bildschirmen entstehen gestochen scharfe Bilder wie von dem Meister der hyperrealistischen, stets ein wenig unheimlich wirkenden Fotografie Gregory Crewdson inszeniert. Nietzsches Aussagen über das Perspektivische als Grundbedingung des Lebens werden zitiert: „Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ‘Erkennen‘; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, …umso vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsere ‚Objektivität‘ sein.“ Der Voyeur in uns trampelt heftig mit den Füßen gegen die Bauchdecke, denn wir wollen ja Vollständigkeit, erleben aber nur Fragmente. „Wir nehmen das Bild nie vollständig wahr; wir nehmen immer weniger wahr, nämlich nur das, was wir … wahrzunehmen bereit sind“, erklärt uns Gilles Deleuze in seiner Filmtheorie, deren Text noch mehrfach im Verlaufe des Abends zu hören sein wird. „Wir nehmen also normalerweise nur Klischees wahr.“
In Teil 1 des Triptychons nämlich den banalen Alltag des wohlsituierten Mittelstands. Duschen, Zähneputzen, Schminken. In Endlosschleife. Duschen, Zähneputzen, Schminken. Duschen, Zähneputzen, Schminken. Oder, im anderen Raum: Butterbrot schmieren, Essen. Butterbrot schmieren, Essen. Oder: Relaxen im Garten, in den Pool steigen. Im TV läuft Skispringen. Immer die gleichen Szenen. Manchmal gibt es minimale Veränderungen – statt einer Person gehen zwei zu Bett, statt Skispringen wird einmal ein Fußballspiel übertragen. „Ein Loop über das, was uns trennt“, lautet der Untertitel der Performance, und der Loop ist nicht nur der, den die Kamera-Prozession beschreibt. - „Wüst und wirr“ ist das nicht, eher friedlich und idyllisch, wenn nicht die Crewdson-Ästhetik beunruhigen und die Wiederholung die Aussichtslosigkeit im Hinblick auf Veränderungen verdeutlichen würde. Wo führt dieses Still-Leben hin? Der erste Gesang von Dantes „Inferno“ ist zu hören: „… in der Mitte des Pfades fand ich mich in einem dunklen Wald, und der rechte Weg war verschwunden …“ – Die „Road to Nowhere“ von den Talking Heads erklingt, Schellings „Schriften zur Philosophie der Freiheit“ werden zitiert. Übrigens: Konsequent zieht Voges sein Thema der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen durch. All diese Zitate werden keineswegs zur gleichen Zeit auf den Videowänden eingeblendet, zu denen sie gesprochen werden. Hören und Lesen kann schon mal eine Stunde auseinanderklaffen. Aber irgendwann, verlassen Sie sich drauf, kommt der Text – und mit ihm die Quellenangabe. Und der Rätselfreund in uns tritt gegen die Bauchdecke vor Freunde, dass er wieder mal was begriffen hat. „Es gibt nichts zu verstehen, aber viel zu erleben. Wie auch sonst im Leben“, hatte das Dortmunder Schauspiel uns gewarnt. Das bildersatte, musikalische Totaltheater macht auch dann süchtig, wenn wir nichts verstehen. Im zweiten, dem dichtesten Teil des Triptychons, wühlt es schmerzhaft auf.
Nach einer Stunde ist die Harmonie des ersten Teils vergangen. Plötzlich werden die Bilder angehalten, eingefroren mitten im Wurf des Basketballs, mitten im Verkloppen des Sohnes. Musik und Geräusche schwellen vorübergehend zu kakophonischem Lärm an. Josua führt nun die Prozession an – mit sieben Priestern, sieben Posaunen und der Bundeslade. Wer es nicht weiß, erfährt es aus dem Text vom Band: Wir erleben die Eroberung und Zerstörung von Jericho. Und die Bibelfesten wissen: Was folgt, ist blutig und erbarmungslos. Es bleibt nicht bei den Zitaten aus dem AfD-Kulturprogramm, das wenige Tage vor der Premiere verabschiedet wurde. Wir hören die Hollande-Rede nach den IS-Anschlägen in Paris („c’est un acte de guerre“), die Bush-Rede nach 9/11, die Aussagen von Frauke Petry zum Schusswaffengebrauch gegen Flüchtlinge. Und sehen die Gleichzeitigkeit des Ungleichen: eine mit Burka bekleidete Person und ein Paar, das in seinem Heim ein Willkommens-Schild aufhängt, ein liebendes Paar, Soldaten und Kriegsversehrte. Wir hören von Katastrophen und Terrordrohungen, erneut viel Brecht – und Charles Bukowski: „Auf den Tod ist man gefasst, auf Mord, Inzest, Raubüberfall, Feuer, Überschwemmungen. Nein, was einen ins Irrenhaus bringt, ist die nie abreißende Serie von kleinen Tragödien. Nicht der Tod eines geliebten Menschen, sondern ein Schnürsenkel, der reißt, wenn man eh schon zu spät dran ist.”
Immer apokalyptischer wird die Welt, die wir erleben. Tocotronic bringt den schmissigen Soundtrack dazu: „Kannst du vor deinen Augen die Explosionen sehen / Alles explodiert, kein Wille triumphiert …“ Zu klassischer Musik wird ein junges Mädchen vergewaltigt, und dazu geht in den übrigen Zimmern das Leben weiter: Es wird geheiratet oder im Whirlpool getanzt. In der Politik verschwimmen die Grenzen zwischen links und rechts; Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ wird in arabischer Übersetzung gelesen – die Szene, in der Shylock rechtfertigt, warum er des Antonio Fleisch aus dessen Körper schneiden will: Um „Fische damit zu ködern. Sättigt es sonst niemanden, so sättigt es doch meine Rache.“ Und dann die berühmten Sätze: „Hat nicht ein Jude Augen …“ – auf Arabisch! – Auch der arabischen Braut wird Fleisch genommen – und jegliche Zukunftsperspektive: Brutal wird sie im Plymouth entjungfert. Die Braut tötet ihren Bräutigam; ein christlicher Pater steht dabei und greift nicht ein. Was für ambivalente Gefühle wecken solche Szenen! - Auf die Apokalypse folgen Sätze des französischen Romantikers Étienne Pivert de Senancour. In seinen „Träumereien über die ursprüngliche Natur des Menschen“ entwarf er im Jahre 1799 eine Utopie vom Schönen, Wahren und Gerechten. „Dieselbe Erde bringt gleichzeitig Obstgärten und zerstörerische Vulkane hervor.“
Der 3. Teil (Einsturz Traum Aufhebung) ließ den Rezensenten ein wenig ratlos zurück. Ein blinder Seher mit Waage (die Gerechtigkeit?) und jede Menge männlicher und weiblicher Lolitas treten auf. Ausgiebig werden Jonathan Meeses Schriften zur Diktatur der Kunst, zum „Lolitatum der Totalkunst“ zitiert: Lolitas haben für Jonathan Meese künstlerisch-revolutionäres Potential: „Alle Lolitas sind total konsenslos. Alle Lolitas sind totalst vital. Alle Lolitas sind totalst zukunftsfähig.“ Wenn Sie den Rezensenten fragen: Meeses Text ist totalst meschugge. Bukowskis Sätze zum Schnürsenkel, dessen Reißen uns schneller ins Irrenhaus bringt als Mord und Totschlag, werden erneut zitiert. Und zum Schluss stirbt der Kaiser und Eroberungskrieger Napoleon. Er stirbt mit einem stammelnden Ruf nach der schon etwas älteren Lolita-Maus Claudia Schiffer auf den Lippen. Den Tod des grausamen Feldherrn zu inszenieren, heißt für Voges, die Utopie einer Welt ohne grausame Männer wie ihn zu erschaffen. Der blinde Seher marschiert dem Leichenzug voran, in dem die Lolitas den aufgebahrten Kaiser zu Grabe tragen. Gustav Mahlers Auferstehungssinfonie erklingt. Dieser dritte Teil erscheint ein wenig kitschig. Und der Weg zur Auferstehung der Welt, zu Glück und Harmonie, der hier geschildert wird, erscheint kaum weniger sektenhaft als das Leben der finsteren Dorfbewohner beim FC Bergman. Aber vielleicht hat der Schreiber dieser Zeilen ja einfach nicht das richtige Verhältnis zu Lolitas.
Er hält es eher mit David Bowie. Der sang zum Ende des 2. Akts seinen „Major Tom“. Der Aufforderung der Bodenstation schließe ich mich gerne an: „Take your protein pills and put your helmet on“ – und nichts wie hin zu einem der ungewöhnlichsten, großartigsten Theater-Experimente der letzten Jahre. Man mag das grandios nennen oder grandios gescheitert: Aber wieder einmal ist Kay Voges und seinem Team eine Inszenierung gelungen, die bewusstseinserweiternd ist. Sie ist ein erneuter Beweis für die Positionierung des Schauspiels Dortmund auf der Höhe der avantgardistischen Kunst.