Im Frühling sterben
Drei Stücke hat Wolfram Höll erst geschrieben. Gleich mit dem ersten gewann er den wichtigsten Autorenpreis des deutschsprachigen Theaters: Für seinen Erstling Und dann (theater:pur-Besprechung siehe hier) wurde er im Jahre 2014 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet. Auch wenn sein Stück kaum als Drama zu bezeichnen war, zeigte sich theater:pur begeistert: „Experimentelle Lyrik als Verlierer-Drama – intelligent und einfühlsam inszeniert“, jubelte der Rezensent und schloss sich dem Urteil der Jury an, die das Stück zum besten des Jahres kürte.
Thirza Bruncken hat nun am Schauspiel Leipzig die Uraufführung von Hölls drittem Stück inszeniert. Bruncken ist eine der großen Querdenkerinnen des deutschen Theaters. Mit ihrem herzhaften Regiezugriff polarisiert sie, wo immer sie antritt, denn sie untersucht die Stücke stets aus einem Blickwinkel, der sich dem Kenner des Stücks nicht unbedingt aufdrängt. Sofern man den (wahlweise: einen x-beliebigen, vielleicht von den Gedanken der Regisseurin sogar abweichenden) Schlüssel zu ihren Inszenierungen findet, erlebt man faszinierende Theaterabende. Für Wolfram Hölls Drei sind wir hat sich Bruncken eine Regieassistentin an die Seite geholt, die wir in Nordrhein-Westfalen von ihrer viel zu wenig beachteten Arbeit am Bochumer ROTTSTR5 Theater ebenfalls als eine große Denkerin kennen. Charlene Markow lädt ihre Regie-Arbeiten mit einer Intellektualität auf, die es ebenfalls manchen Zuschauern schwermacht, ihnen zu folgen. Wer aber tiefer zu schürfen bereit ist und Markows Gedanken entschlüsselt, ist beeindruckt. Bruncken und Markow – das passt. Ein starkes Team.
Den Mülheimer Zuschauerpreis wird Bruncken dem Dramatiker wohl dennoch vermasselt haben. Erneut polarisierte ihre Regie. Auch die zahlreichen Rezensionen der Leipziger Uraufführung waren mehrheitlich kritisch. Aber es ist wie immer bei dieser Regisseurin: Es kommt auf den Blickwinkel an. Dem starken Team ist nämlich ein mitreißender Abend gelungen – und ein erschütterndes Psychogramm einer Familie mit einem schwerstbehinderten, zum Sterben verurteilten Kind. Von Wolfram Hölls wunderbarer Lyrik ist nicht mehr viel zu spüren. Von der Verzweiflung von Hölls Figuren umso mehr. Erneut ist Hölls kurzer Text eine große poetische Textfläche voller Melancholie und mit wunderbaren, tief traurigen Wortspielen. Erneut geht es um ein verlorenes Kind und seine Eltern. Ein Kind, das an Trisomie 18 leidet, einem schweren Chromosomen-Defekt, der durch einen Fehler im Erbgut entsteht. Das Chromosom 18 ist dreifach und nicht wie bei gesunden Menschen zweifach in den Zellen vorhanden. Aufgrund schwerer Fehlbildungen, die das Herz, das Gehirn, die Nieren und den Magen-Darm-Trakt betreffen, haben die wenigen Kinder, die die pränatale Phase überleben, nur eine Lebenserwartung von wenigen Monaten.
Das Kind wird geboren, „drei Chromosemn wo / zwei Chromosomen wohnen / sollten / // eins zu viel // … // doch wir sind drei / wir sind drei / wir sind / eins zuviel / eins / zuviel / sind wir nicht.“ Es ist Frühling, und die Eltern beschließen, mit dem schwerstbehinderten Sohn nach Kanada zu gehen. Dort kommt gelegentlich ein Freund vorbei, nach und nach die Verwandten aus Europa. Verlustängste, aber auch ein entschlossener Optimismus, dass man der Krankheit trotzen wird, werden spürbar. Doch mehr und mehr nimmt angesichts der Aussichtslosigkeit der Lage die Verzweiflung überhand. Anfängliche minimale Entwicklungsschritte des Kindes bleiben bald aus: „Er entwickelt sich und / wickelt sich ab.“ Nach einem Jahr lassen die Eltern das Kind erstmals für einen Tag allein. Als sie zurückkehren, hat der kanadische Freund es ins Krankenhaus gebracht. Es ist wieder Frühling, und das Kind wird sterben.
Frühling, Sommer, Herbst, Winter und wieder Frühling: In fünf Kapitel ist Hölls Stück gegliedert. Frühling: Das bedeutet Hoffnung und Zuversicht, Aufbruch ins neue Leben. „Frühling“ nennen die Eltern auch ihr behindertes Kind. Krampfhaft halten sie sich an Hoffnung und Zuversicht fest. Doch „Frühling“ wird ihnen ihr eigenes Leben zur Qual machen. – Thirza Bruncken verweigert in ihrer Inszenierung jede Poesie. Sie gibt dem lyrischen Stück eine erbarmungslose Härte, ist dabei aber ebenso formbewusst wie Höll in seiner Lyrik. Auf vier statt wie von Höll vorgeschlagen auf fünf Personen hat sie den Text verteilt, zwei jeweils ähnlich aussehende Herren und Damen, exemplarische junge Menschen in der Eltern- oder Onkel-Rolle ohne spezifische Charakter-Eigenschaften. Gespielt wird in einem faden unmöblierten Guckkasten-Zimmer mit Sperrholz-Wänden und einer Tür, die nirgendwo hinführt, sowie einem Fenster, das bei näherem Hinschauen ein Spiegel ist. Freudlosigkeit und Ausweglosigkeit des Lebens dieser Menschen werden deutlich ausgestellt, und versuchen die Menschen durchs Fenster in eine heiterere Welt zu schauen, werden sie vom Spiegel auf sich selbst zurückgeworfen. Eine kalte, hässliche Leuchte hängt an der Decke, die ein splitterndes Geräusch macht, wenn der kanadische Freund sich ankündigt – das „normale“ Leben von außen schmerzt. Ein dunkler, gleichförmiger Brummton sowie Störfrequenzen wie aus Opas altem Dampfradio prägen die bedrohlich unangenehme Atmosphäre ebenso wie kehlige Laute, die wir als Äußerungen des kranken Kindes interpretieren, die aber, wie uns das Regieteam später aufklärt, Robbentöne darstellen – Außenwelt mit wenig tröstlicher Wirkung. Manchmal hört man von fern das Meer rauschen, einmal erklingen Glocken – und sie klingen nach der Unerbittlichkeit des Schicksals.
Brunckens formbewusste Inszenierung setzt konsequent auf Künstlichkeit und Stilisierung. Dennoch gelingt es den Schauspielern auf grandiose Weise, die Gefühlslage dieser Familie deutlich zu machen. Ihre Bewegungen sind konsequent durchchoreografiert. Wie eine Naturgewalt bricht die Nachricht von der Behinderung des noch ungeborenen Kindes über sie hinein: Sie werden hin und her gewirbelt wie Blätter im Sturm. Wiederholt zeigen sie exakt choreografierte Tänze zu einer Musik, die fröhlich sein könnte – wenn sie nicht von diesen mechanischen Bewegungen und diesen versteinerten Gesichtern der Schauspieler begleitet würde. Ezra Pounds Gedicht kommt einem in den Sinn: „Und betoniere dein Gesicht / verschal’s mit Eisen / geh heiter durch das Ziel / auch wenn dir nicht danach zumut ist.” Wenn Sebastian Tessenow Queens „I want to break free“, singt, wirkt das nicht trotzig, sondern verloren, wie eine ferne Erinnerung an ein anderes, glücklicheres Leben. Mechanisch wird ein angedeuteter Geschlechtsakt ausgeführt, freudlos – man muss ja weiterleben. Einmal bricht Anna Keil zusammen. Sie wird von den Kollegen aufgehoben, an die Wand gestellt und zur Puppe aufgehübscht. Kein eigenes Leben steckt mehr in der Mutter des behinderten Kindes. Die Figuren sind angekettet an ein erbarmungsloses Schicksal. Normalität gelingt allenfalls andeutungsweise in ritualisierten Bewegungen, aber jegliche Emotion ist abgestorben. Der Versuch, das alte „normale“ Leben weiterzuführen, scheitert. Ein perfekter Soundtrack aus den erwähnten Geräuschen, aus Pop und Elektroswing sowie dramatischer Filmmusik, die gegen Ende an Hitchcock-Filme erinnert, rhythmisiert den Höll-Text – vermutlich anders als der Autor es sich vorgestellt hat, aber nicht weniger wirkungsvoll.
So klaustrophobisch wie Bühnenbildner Christoph Ernst den Raum designt hat, so klaustrophobisch wird die Atmosphäre im Zuschauerraum. Die Künstlichkeit von Brunckens Inszenierung hält nicht auf Distanz, sie macht uns fertig. Es ist erschütternd. Am Ende zeigt uns Bruncken einen Ausschnitt aus Robert J. Flahertys Stummfilm-Dokumentation Nanook of the North aus dem Jahre 1922. Wir sehen Inuit-Rituale; die Regie hat den Soundtrack eines Schamanen in Originalsprache unterlegt. Das wirkt ein wenig esoterisch und erschien dem Rezensenten überflüssig. Aber in der Publikumsdiskussion zweifelte der sowieso daran, ob seine Interpretation mit den Absichten der Regie übereinstimmte. Sie wäre aber schlüssig. Und das eben ist das Geheimnis einer jeden Thirza-Bruncken-Inszenierung: Man muss einen Schlüssel finden – egal welchen, Hauptsache, er passt. Dann wird es grandios.