Übrigens …

Und dann kam Mirna im Mülheim/Ruhr

Atemloses Pointen-Gewitter

„Diese vier Mädels pfeifen auf uns, wir aber möchten sie wiedersehen.“ So endete vor gut einem Jahr die theater:pur-Rezension von Sibylle Bergs Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen (siehe hier). Der Wunsch war Suna Gürler, Rahel Jankowski, Cynthia Micas und der für Nora Abdel-Maksoud eingesprungenen Çigdem Teke Befehl; die Frau Berg und der Herr Nübling haben ihnen mit einer Fortsetzung ihrer Geschichte auf die Sprünge geholfen. Sie sind also wieder da, die vier herrlich hässlichen und atemberaubend schlagfertigen Revoluzzerinnen. Sie tragen noch dieselben Hornbrillen und dieselben unvorteilhaften, viel zu weiten Sweater wie damals beim Gastspiel ihres anderen Stücks in Gütersloh. Doch schon in der ersten Szene ziehen sie die Pullis aus, und zum Vorschein kommen schlabberige Blümchenkleider über passenden Leggings, in denen Blau- und Lila-Töne dominieren und die irgendwie von fern an die Haushaltskittel unsere Großeltern erinnern. Denn unsere Mädels sind gut zehn Jahre älter geworden – und, die eine als Folge einer sexuellen Handlung, die eher „einer mit Stiefmütterchen bepflanzten Verkehrsinsel“ denn einem Liebesakt glich, die andere in Folge einer künstlichen Befruchtung mit rassenübergreifendem Sperma-Mix, die dritte und vierte aus anderen unglücklichen Umständen in andere Umstände gekommen und dann Hausfrauen und Mütter geworden. Lustlos hatte man herumgevögelt, und dann kam plötzlich Mirna. Am 9. November. Am Tag der Reichspogromnacht. Mirna wird zur Bedrohung des alternativen Mutter-Lebens.

„Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau / Die Mutter der Kinder…“? – So fühlen sie sich, die vier, aber keine Sorge, so weit ist es noch lange nicht. Die Schlagfertigkeit und die schonungslose Selbstreflexion ihrer Jugend ist diesen Müttern nicht auszutreiben. Noch ist ihr Gehirn nicht „mit der Geburt in das Baby gerutscht“, um dort auf kleiner Flamme weiterzukochen. Doch das freche Selbstbewusstsein scheint brüchig. Hatten sich die jungen Frauen fröhlich als anarchischer Gegenentwurf gegen angepasste Alte und per Drohne nach potentiellen Sexualpartnern suchende Männer inszeniert, gelingt den Müttern keine Rollenidentifikation mehr. Sie trauern ihrer Vergangenheit als „Sozialschmarotzerin mit ausgeprägter Neigung zur Gewaltbereitschaft“ nach, haben die Zufalls-Väter ihrer Töchter längst in den Wind geschossen und streben ein wenig widerwillig den gemeinsamen Umzug aus der wilden Stadt in eine Landkommune im öko-alternativen Holzhaus an. Landkommune statt Stadtguerilla - keine der vier schickt sich an zu packen. Das erledigen stattdessen die vier Mirnas. Zwar entsorgen sie mehr als dass sie packen, aber wenn sie nicht einpacken, packen sie zumindest an. Die Zehnjährigen sind der Gegenentwurf zu ihren Müttern. Ihre Hornbrillen entstellen nicht, sondern sie stehen den Kindern halbwegs gut. Gekleidet sind sie in schicke adidas-Klamotten – hat da jemand aus der Eltern-Generation was gegen Marken-Fixierung gesagt? Sie sind rational und zielstrebig und ihren haltlosen Müttern im Hinblick auf Lebenstüchtigkeit überlegen. „Ich werde nie so sein wie meine Mutter“, hatten sich die ehemaligen Riot Girls geschworen – und sie sind anders geworden. Über dreißig und noch auf der Suche nach dem maximal-alternativen Lebensentwurf. Die Kinder schwören sich gar nichts – sie SIND einfach nicht so wie ihre Mütter. Mirna möchte sich „in der Verkleidung eines netten Mädchens auf meine Rolle vorbereiten, die etwas mit Dingen wie – sagen wir – Bundeskanzlerin oder CEO der Nationalbank zu tun haben wird.“ Kinder als karrieresüchtige Spießer also? Sie wünschen sich „ordentliche Eltern. Spießereltern, die Grün wählen und Alte-Menschen-Sachen machen“. Mirna ist es leid, permanent Verantwortung für ihre Mutter übernehmen zu müssen – und tut es doch, „weil sie ein guter Mensch ist und ein wenig schwach.“ Und weil sie ein Konzept hat, anders als ihre Erzeugerin. „Warum werden Mütter immer gehasst“, fragt Mirnas Mutter. Mirna aber hasst ihre Mutter nicht, sie wünscht sich nur, nicht als deren Freundin missbraucht zu werden.

Das klingt alles so furchtbar ernst, wenn man es zusammenfasst. Dabei ist das Stück genau wie sein Vorgänger einfach nur ein atemloses Pointen-Gewitter. Die „SPIEGEL online“- und frühere „Brigitte“-Kolumnistin Sibylle Berg ist eine virtuose Sprachakrobatin. Ihre Farcen sind voller hinreißendem, bitterbösem Witz. Natürlich klingen in ihrem Stück sowohl die Thematik von Orna Donaths soziologischer Studie Regretting Motherhood als auch die vollkommen überzogenen emotionalen Reaktionen darauf an. Natürlich spießt die Autorin gesellschafts- und familienpolitisch relevante Fragestellungen auf wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder die feministische Sicht auf Gleichberechtigungsfragen. Am ersten Abend des Mülheimer Gastspiels (der Rezensent besuchte die zweite Vorstellung, zu der Sibylle Berg nicht anwesend war) soll die Wahl-Schweizerin Berg gesagt haben, es sei ihr wichtig zu zeigen, dass die Kindergeneration Verantwortung für ihre Mütter übernehmen müsse, weil die Mütter in einer Welt wohnen, in der sie völlig haltlos seien. Und zwar aufgrund der katastrophalen Arbeitsmarktsituation, des vollkommenen Mangels an Chancengleichheit und des hohen Effizienzdenkens der Gesellschaft. Da staunt der Fachmann, blickt verwirrt auf die Arbeitsmarktdaten, die Deutschland und die Schweiz in der Nähe der Vollbeschäftigung zeigen, blickt auf die Gesellschaft, deren Ränder sich zwar radikalisieren, in deren Mitte aber sich eine ebenso radikale Sozialdemokratisierung sämtlicher bürgerlicher Parteien vollzieht – und er ahnt, dass auch Frau Berg in einer Welt lebt, die schon ein paar Jahre vorbei ist. Das ist auch das Problem des Stückes, wenn man es ernsthaft inhaltlich analysiert: Die Mütter, die dort geschildert werden, sind die Mütter einer 68er-Generation, und die erfolgsorientierten, überehrgeizigen Kinder fand der Rezensent als Personalmanager unter den Hochschulabsolventen der späten 80er, frühen 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Bergs sarkastischer Zeitkommentar kommt also irgendwie zwanzig Jahre zu spät. Aber er macht Freude, weil er, obwohl nicht gar so aberwitzig wie das Vorgängerstück, grandios geschrieben ist. Weil Sebastian Nübling ihn in atemberaubendem Tempo inszeniert. Und weil die vier „Mütter“ ihn mal individuell, meist chorisch mit herausragendem Gespür für seine Ironie interpretieren. Unterschiede zu Nüblings Inszenierung des Vorgänger-Stücks gibt es allerdings nicht; wir erleben ein reines Déjà-Vu. Das chorische Sprechen gelingt nicht immer vollkommen synchron, was ein Ausdruck dafür sein mag, dass sich auch die vier Freundinnen auseinanderzuleben drohen. Und die vier Kinder, die die intelligenteren und vernünftigeren Argumente haben, deren gnadenlose Rationalität aber ebenfalls Fragen bezüglich ihrer Zukunftsperspektiven aufwirft, drohen manchmal den Schwung der Inszenierung zu bremsen. Wer das Vorgänger-Stück in Nüblings Inszenierung kennt, vermisst eine Weiterentwicklung. Wer es nicht kennt, wird begeistert sein von einem höchst unterhaltsamen und viele Diskussionen anregenden Stück Theater.