Übrigens …

The Situation im Mülheim

„Deutschland in 90 Minuten“

Wer auf Hebräisch oder Arabisch die politische Lage im Nahen Osten beschreibt, spricht von The Situation. Viele Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Iran sind in den letzten Monaten auch nach Berlin geflohen, wo sie auf Israelis, Palästinenser und Libanesen treffen, die es schon vorher dorthin verschlagen hat. Wie kommen sie miteinander aus? Wie treffen diese Migranten auf die deutsche Gesellschaft, die mit deren zum Teil traumatischen Erfahrungen konfrontiert wird?

Yael Ronen, eine in Berlin lebende israelische Regisseurin, entwickelte das Stück The Situation zusammen mit Schauspielern, die selbst aus Israel, Palästina, Syrien und Kasachstan nach Berlin gekommen sind. Ihre Biographien sind das Material für diesen Abend, auch wenn die Figuren auf der Bühne nicht identisch mit den Akteuren sind.
In einem Deutschsprachkurs in Neukölln treffen sie aufeinander. Dimitrij Schaad spielt den bemühten Kursleiter Stefan, der bewusst deutlich spricht und „pädagogisch wertvoll“ versucht, seinen Schülern elementare Züge der Konversation („Wie ist dein Name?“, „Wo kommst du her?“) und der Grammatik zu vermitteln (z.B. was man unter W-Fragen zu verstehen hat). Betont verständnisvoll sagt Stefan, der typische gut meinende Deutsche: „I want to integrate you.“ Betroffen von den zum Teil heftigen Reaktionen seiner Schüler, die sich schnell missverstanden fühlen (so fragt die Israelin Noa (Orit Nahmias) ihn unvermittelt, was er gegen Israel habe), reagiert er verwirrt und hektisch. Als der Syrer Hamoudi (Ayham Majid Agha) ihm von seinen Schmuggeljobs in der Heimat erzählt und makabre Scherze über angebliche Kontakte zum IS macht, weiß Stefan nicht, wie er damit umgehen soll. Karim (Karim Daoud) und Laila (Maryam Abu Khaled) aus Palästina berichten von der Unterdrückung und Diskriminierung in der Heimat und sind nicht bereit, sich auf Noa und ihren Noch-Ehemann Amir (Yousef Sweid), einen Palästinenser mit israelischem Pass, einzulassen. Stefan sieht sich mehr und mehr mit dem nach Berlin transferierten Nah-Ost-Konflikt konfrontiert, der seine geplante Unterrichtsreihe mit Lektionen wie „Was machst du hier?“ und „Möglichkeitsformen“ schnell ins Wanken bringt. Und immer wieder verfallen diese Immigranten „in einer Stadt voller Immigranten“ in Arabisch, Hebräisch oder Englisch, um ihren Gefühlen, ihren Vorurteilen –auch untereinander – Ausdruck zu verleihen. So ist der ganze Abend übertitelt, was aber der Wirkung keinen Abbruch tut. Und was auch den so oft schwierigen Dialog verdeutlicht. Ein Novum für die Mülheimer-Stücke-Tage, die ja das Traditionstreffen für deutschsprachige Autoren sind.

Gerade im ersten Teil besticht der Abend durch viel Witz und auch Slapstick, hat aber durchaus auch viel Tiefgang. So behauptet Noa, es sei kein Problem für sie, in Berlin zu leben. Den Holocaust habe sie hinter sich gelassen. Sie sagt: „Ich bin über es.“ oder „Es ist hinter mir.“ Dennoch räumt sie ein, sie fühle sich in der vollen U-Bahn oder unter den Duschen in der Sauna an den Holocaust erinnert. Ihr Mann berichtet von einem Erlebnis in Neukölln, das er „an amazing Palestinian village“ nennt, das die die häufig schizophrene Lage mancher Migranten demonstriert. In Tel Aviv traute er sich nicht, mit dem gemeinsamen Sohn Arabisch zu sprechen. In einem arabischen Café in der Sonnenallee bestellt er auf Arabisch, sein Sohn auf Hebräisch: „Der Kellner schaute mich an wie einen Juden, der Arabisch beim Mossad gelernt hat.“

Im zweiten Teil der Inszenierung gesteht Stefan, der eigentlich Sergej heißt, dass auch er in den neunziger Jahren mit seinen Eltern aus Kasachstan eingewandert ist. Auch Dimitrij Schaad kommt aus Kasachstan. Wie mühsam der Eingewöhnungsprozess war und wie hilflos seine Eltern sich letztlich zeigten. So fürchtet sein Vater immer noch den Gang zu deutschen Behörden mehr als die russische Mafia. Auch die Mitspieler berichten nun ausführlicher von ihrem persönlichen Schicksal. Der Abend gewinnt eine andere Dimension, die aber das Bild von Deutschland im Jahre 2016 abrundet, wo alle Parteien, geprägt von eigenen Erfahrungen und Vorurteilen, sich um Verständnis und um ein Miteinander bemühen müssen.

Treffender ist diese aktuelle Situation noch nicht auf der Bühne dargestellt worden.