Übrigens …

Buch (5 ingredientes de la vida) im Mülheim/Ruhr

Es bleibt die Kraft der Phantasie

In dem Episoden-Stück Buch führt uns der Regisseur Armin Petras bildmächtig durch das Opus–Magnum seines Alter-Ego Fritz Kater und lässt uns dabei zu Beginn erst einmal ganz faktisch Räume und Zeiten durchschreiten. Wir werden gleichsam Teil einer im Jahr 1966 angesiedelten Rauminstallation, bei der selbstgefällige Pseudo-Wissenschaftler ein Zukunftsszenario der Welt entwerfen, indem sie von riesigen Videos an den vier Wänden über uns hinweg diskutieren, während wir als Zuhörer im dunklen Raum stehen oder herumgehen. Doch diese „utopie“ ist nur die erste Station unserer Gedankenreise, die uns zu Mond, Mars und Venus, nach Arizona und Afrika führen, mit großen Namen wie Platon Thomas Morus, Charles Fourier, Proust oder Bloch kokettieren und dann doch im Jahr 1974 auf dem Bahnhof Ostkreuz in Ostberlin bei zwei hilflosen, alleingelassenen, vor Kälte zitternden Kindern landen wird. „phantasie“ ist dieser zweite Teil übertitelt, der nun allerdings live im Saal auf zwei weit voneinander entfernten Bühnen spielt. In eindringlichen, berührenden Szenen erleben wir, wie es der kindlichen Phantasie und Gemütskraft gelingt, Angst, Unbilden und die traurige Gewissheit zu verdrängen, dass die ersehnte Mutter längst im Westen und der alkoholkranke Vater seit Jahren im Sanatorium ist. Dabei hat sich nicht nur das Szenario bei diesem Szenenwechsel dramatisch verändert, auch die Sprache wechselt von akademischer Kunstsprache zu echtem Berlinern: auf die Utopie-Farce folgt eine anrührende, realistische Milieuszene.

Die sich anschließende Kette oft surrealer Bilder und Assoziationen durchzogen von konkreter Ostalgie zum Thema „liebe und tod“, weckt Erinnerungen an die DDR-Überlebens-Story „zeit zu lieben zeit zu sterben“, für die Fritz Kater/Armin Petras 2003 den Mülheimer Dramatikerpreis erhielt.

Dann wieder ein enormer Orts- und Themenwechsel, dazu Umbau der Sitzbänke: „instinkt“ betitelt Kater die folgende Tierfabel, die mit akrobatischem Körpereinsatz der Schauspieler aus der Sicht einer Elefantenkuh das tierische Leiden und die Schuld der Menschen an der Zerstörung der natürlichen Lebensräume in Szene setzt. Am Ende löschen „schraubenflieger aus eisen“ und „schüsse wie brände“ den Traum vom „stillen land“, dem Sehnsuchtsland der Tiere, aus.

Nach der Pause der 5. Teil: „sorge“, Szenen einer Ehe, ein Kammerspiel von fast einer Stunde. „du bist nicht da wenn dein kind krepiert du schwein“ wiederholt die Frau refrainartig und zwanghaft am Telefon den Mutter-Vorwurf gegen ihren Künstler-Mann, der damit beschäftigt ist, sein Leben in eine Kunst-Installation zu verwandeln. Trotz eines enervierenden Problem-Droppings: Drohnen, Migranten, Industrialisierung, Umweltverschmutzung, Goethes Faust, Jean Paul - berührt dieser Teil, der bis ins Jahr 2013 reicht, durch einerseits spielerisch empathische, andererseits absurd surreale Szenen, die in und neben einem gigantischen metallenen Elefantenskelett gespielt werden. (Ein gelungenes Bildzitat zum vierten Teil)

Fritz Kater/Armin Petras mutet dem Zuschauer viel zu. Ein Kaleidoskop an Themen, Problemen, Mythen und Utopien wird aufgerufen und in fantastischen, oft begeisternden Bildern dramatisch dargeboten mit beeindruckenden Videos, einer mitreißenden Tanz-Choreographie und wunderbarer Live-Musik. Visuelle und akustische Effekte werden bis an die Schmerzgrenze ausgereizt.

Doch schaffen wir es wirklich, das alles an einem Abend zu verkraften: die Utopie-Besessenheit der wissenschaftsgläubigen Sechziger-Jahre, DDR-Unrecht, Umweltzerstörung, Militarismus, Kunstbetrieb und Familienzerfall in einem Stück zu begegnen? Und schafft es der Autor, einen Zusammenhang glaubhaft zu machen? Interessant ist, dass es ausgerechnet „Ernst“, der schwächste unter den wahnwitzigen Utopisten der ersten Szene ist, der uns in den locker verknüpften Episoden immer wieder begegnet und uns hilft, uns im Labyrinth der Ereignisse zurechtzufinden, während er selbst als Wissenschaftler und Mensch scheitert und über seine zerbrechenden Utopien am Alkohol zu Grunde geht. (Eindrucksvoll dargestellt von Ursula Werner).

Buch heißt das Stück, es könnte schlicht das Text-Buch zum Theaterstück meinen mit all seinen Geschichten (das übrigens durchgängig klein und ohne Interpunktion geschrieben ist) - oder aber den Ortsteil von Pankow mit seiner riesigen, geschichtsträchtigen und verdächtigen Krankenhaus-Anlage in der „Ernst“ jahrelang behandelt wurde - oder letztendlich das Buch-des- Lebens, wenn auch nur einen Ausschnitt davon. Vielleicht gelten alle drei Varianten?

Und dann sind da noch die „5 ingredientes“ – sind es die Bestandteile, die Inhaltsstoffe, die Komponenten oder nur Zutaten? Alles ist möglich im Spanischen. Geben uns die 5 Zwischenüberschriften vielleicht Hinweise: „utopie“, „phantasie“, „sorge“, „instinkt“ und schließlich „liebe und tod“, sind das die fünf Ingredienzien des Seins, die Leben und Stück zusammenhalten? Eine traurige Bilanz, denn im Stück bleibt wohl nur die Phantasie als Überlebensstrategie.

Gleichermaßen beeindruckt wie bedrängt verlasse ich das opulente Theaterstück nach fast vier unterhaltsamen Stunden und lese im Foyer das Fazit Roland Müllers in der Stuttgarter Zeitung nach der dortigen Premiere: „Man muss dechiffrieren und assoziieren, analysieren und kombinieren, abstrahieren und fantasieren – und …. auch noch höllisch auf die Textfluten aufpassen“. Wohl wahr!