Übrigens …

Wunschkinder im Bochum, Schauspielhaus

Marc: „Was liegt an?“

Lutz Hübner, einer der meist gespielten deutschsprachigen Autoren, schrieb zusammen mit seiner Frau, Sarah Nemitz, Wunschkinder als Auftragsarbeit für das Bochumer Schauspielhaus. Die gemeinsame Planung mit Anselm Weber, der bei dieser Produktion Regie führte, hat Tradition. 2005 war Ehrenmord, ein Stück über einen realen Mordfall in Hagen, die erste Teamarbeit von Hübner und Weber. Weitere folgten. So Blütenträume (2006). Das Stück begleitet eine Gruppe von Rentnern, die in einem Volkshochschulkursus das Flirten wieder lernen wollen. Hübners Frau Müller muss weg wurde 2014 von Sönke Wortmann mit Starbesetzung verfilmt. Viele Stücke des Autorenduos Hübner/Nemitz befassen sich mit Alltagssituationen, die jeder irgendwie kennt.
So geht es in Wunschkinder um die Abnabelung der Jugendlichen vom Elternhaus. Was in Zeiten, wo die Eltern sich oft als Kumpel  geben, die mit dem Nachwuchs zum Rockkonzert gehen, schwieriger oder anders schwierig ist als früher. Zudem sehen sich die jungen Leute heute einer Flut von Informationen und Möglichkeiten der Berufsfindung gegenüber. Viele sind schlichtweg überfordert mit einer Entscheidung und hängen durch. So auch Marc, 19, der ein mittelprächtiges Abitur gemacht und jetzt schon vier Monate vertrödelt hat. Vater Gerd, ein leitender Ingenieur, und Mutter Bettine, die um des geliebten Sprösslings willen aufgehört hat zu arbeiten, wollen wissen, wie es weitergehen soll.

In den Kammerspielen sehen wir eine graue, schlichte Bühne, sechs Plastikschalenstühle stehen an der hinteren Bühnenwand. Requisiten fehlen. Neue Szenen werden durch verändertes Licht angedeutet. Diese Konzentration auf den Text tut gut, denn er ist, wie immer bei Hübner, ausgefeilt, pointiert und trifft die Sache auf den Punkt. Schon zu Beginn, wenn Vater Gerd dem entspannt Musik hörenden Filius mal auf den Zahn fühlt, wie seine Pläne außer Partys aussehen, und Marc nur leicht genervt fragt: „Was liegt an?“, ist klar, dass hier noch einiges zu klären ist. Natürlich ist es politisch nicht korrekt, wenn Gerd nicht mit Bettine und Marc zum Willkommensfest für Flüchtlinge gehen will (er meint, ihm fehle das „Helfergen“), schließlich habe er gespendet. Schmunzeln muss man doch. Marc fühlt sich unter Druck gesetzt von all den Erwartungen seiner Eltern. Dann lernt er Selma kennen. Ein toughes Mädchen, das neben zwei Jobs die Abendschule besucht, um ihr Abitur zu machen. Sie kommt aus einer ganz anderen sozialen Schicht. Ihre Mutter Heidrun bekam sie als Folge einer Vergewaltigung mit 18. Heidrun ist Köchin in einer Werkskantine und psychisch äußerst labil. Sie liebt Selma über alles und dennoch kümmert sich die Tochter mehr um die Mutter als umgekehrt.
Selma wird ungeplant schwanger.  Marc ist total verwirrt. Gerd fängt sofort an, verschiedene Alternativen zu planen. Auch Bettine überlegt, wie sie das Kind aufziehen könnte, es wäre eine neue Aufgabe für sie. Heidrun beschwört die Tochter, es sich gut zu überlegen, nicht ihre Fehler zu wiederholen. Selma stößt alle von sich, sie will einfach Ruhe haben.
Dann verliert sie das Kind. Und jeder lebt sein Leben weiter wie zuvor. Zum Schluss erfährt das Publikum in einem kurzen Bericht, wie das Leben der verschiedenen Personen weiter verlaufen ist. So muss man nicht selbst grübeln, wie es wohl weiter gegangen ist. Das ist allerdings unwichtig. Bestechend der Blick auf altbekannte Generationsdebatten und auf Partnerbeziehungen.

Hervorragend das Ensemble. Matthias Redlhammer als erfahrener Business-Mensch, der mit den bewährten Geschäftsstrategien im häuslichen Umfeld nicht immer zum Ziel kommt. Katharina Linder als leicht gefrustete Hausfrau, die so viel für die Familie aufgegeben hat und so wenig Dank erntet. Marc wird von Damir Avdic sehr glaubwürdig verkörpert, ein verwöhnter, lieber Kerl, der die Kurve nicht kriegt. Sarah Gruner ist eine sehr resolute Selma. Und Maja Beckmann berührt als Heidrun, die sich in ihre übergroßen grauen Strickjacke zu verkriechen scheint. Und dabei doch eine so große Liebe zu ihrer Tochter ausstrahlt.

Ein sehenswerter, nachdenklich stimmender Abend.