Übrigens …

Mephisto im Bochum, Schauspielhaus

Ein Schattengewächs drängt zum Licht

Man vergisst es so leicht angesichts der späten Nachkriegs-Karriere, die Klaus Manns Roman Mephisto in der Bundesrepublik Deutschland gemacht hat, und angesichts der steilen Nachkriegs-Karriere, die Gustaf Gründgens hierzulande vergönnt war: Manns Roman stammt bereits aus dem Jahre 1936. Zunächst in einem deutschsprachigen Exilverlag in den Niederlanden erschienen, wurde er erst 1956 in der DDR verlegt. In der Bundesrepublik Deutschland wurde seine Veröffentlichung nach einer Klage des Adoptivsohns von Gustaf Gründgens verboten. In letzter Instanz bewertete das Bundesverfassungsgericht den postmortalen Persönlichkeitsschutz der Hauptfigur höher als das Recht auf Kunstfreiheit. Gustaf Gründgens war schließlich ein Held der Nachkriegsjahre, und der Charakter Hendrik Höfgens, des ehrgeizigen, aber auch brillanten Schauspielers und Opportunisten aus Manns Roman, war allzu deutlich seinem Bilde nachgezeichnet. Als sich der Rowohlt-Verlag im Jahre 1981 über das Veröffentlichungs-Verbot hinwegsetzte, blieb dies folgenlos.

Zeit seines Lebens hat Klaus Mann bestritten, dass Mephisto ein Schlüsselroman sei, aber fast allen wichtigen Charakteren seines Buches lassen sich umstandslos die Klarnamen der Menschen aus dem Umfeld von Gründgens sowie der nationalsozialistischen Politiker zuordnen. Wie der Autor bereits drei Jahre nach der nationalsozialistischen Machtübernahme die Vorgänge im Staat und an den staatlichen Bühnen sowie die Rolle seines einstigen Schwagers unter dem Nazi-Regime schildert, hat scheinbar visionäre Kraft. Andererseits hat uns vor wenigen Wochen noch Hans-Werner Kroesingers zum Berliner Theatertreffen 2016 eingeladenes Dokumentartheaterstück Stolpersteine Staatstheater (siehe hier) vor Augen geführt, wie schnell und mit welch zynischer Konsequenz nach dem 30. Januar 1933 die Säuberung der Theater des Landes von nicht-arischen oder politisch nicht opportunen Mitarbeitern erfolgte. Wer Karriere machen wollte, musste sich anpassen. Es war allenfalls die Frage, welches Ausmaß diese Anpassung haben musste. Über die Bewertung der Anpassungsbereitschaft von Gründgens wird bis heute gestritten. 

 „Spielen wir heute oder 1926?“, fragt Anke Zillich nach wenigen Minuten der dreidreiviertel Stunden langen Aufführung am Schauspielhaus Bochum. Thilo Reuthers Bühnenbild versetzt uns – zumindest in den ersten Szenen – in das Jahr 1926, doch die Gespräche haben unzweifelhaft aktuelle Bezüge. Daniela Löffners Inszenierung beginnt in der Theaterkantine des eher zweitklassigen Hamburger Künstlertheaters, an dem Hendrik Höfgen seine Schauspieler-Laufbahn startet – in einem altmodischen Gaststuben-Ambiente. Die Unterhaltungen der Schauspieler könnten in jeder Theater-Kantine des Jahres 2016 geführt werden: Man diskutiert die Qualität der Aufführung, veralbert das Regietheater, zerfetzt sich das Maul über die (vermuteten) Gagen der Gast-Stars und sehnt sich nach überregionaler Beachtung, während man des lieben Geldes wegen Liederabende spielen muss. Martin Horn gibt den politischen Kopf, den linksorientierten Otto Ulrichs: „Wir haben schon wieder Fremdenfeindlichkeit.“ Anke Zillich entgegnet: „Aber nicht so wie im Dritten Reich.“ Es ist die Diskussion, die wir in den letzten Monaten über AfD oder Pegida geführt haben, ohne dass die heutigen Rechtspopulisten in Löffners Inszenierung explizit erwähnt werden. Der Intendant hält sich raus: Michael Schütz legt Wert darauf, völlig unpolitisch zu sein und nur der Literatur zu dienen. Das, so erläutert das Programmheft, war auch die Philosophie des in Bochum legendären Theatergründers Saladin Schmitt, der sich jeder Politisierungstendenz des Theaters in der Weimarer Republik verweigerte.

Daniela Löffner verweigert sich dem nicht, obwohl sie aus Klaus Manns zwischen verschiedenen literarischen Gattungen changierendem komplexen Roman höchst unterhaltsames Theater macht. Sie hat eine geschickt aktualisierende Textfassung erarbeitet und stellt in ihrer dreieinhalbstündigen Inszenierung die Wandlung des Hendrik Höfgen vom mit linken revolutionären Idealen sympathisierenden Stürmers und Drängers bis zum angepassten, jegliche Überzeugungen über Bord werfenden Opportunisten in den Vordergrund, ohne dass die Figur des Höfgen dabei denunziert wird. Dessen Handlungsweise wird nicht gutgeheißen, ist aber nachvollziehbar. Immer wieder nimmt die Inszenierung Bezug auf rechtspopulistische oder rechtsradikalen Tendenzen von heute – sei es, dass das AfD-Kulturprogramm zitiert wird, seien es die empörenden Wahlkampfplakate aus dem Jahr 2011: „Gas geben – NPD“. Auch der egozentrische nationalkonservative Schriftsteller Theophil Marder trägt die Züge eines AfD-Mannes oder eines rechten Nachkriegs-Politikers. Martin Horn gibt ihn als eitlen, narzisstischen Reaktionär und macht aus der eher marginalen Figur einen der schauspielerischen Höhepunkte des Abends. „Die Zeit ist in Verwesung. Sie stinkt. Ich habe es gerochen“, argwöhnt er. Wie recht er haben wird mit seiner apokalyptischen Prognose, doch ist er mit seinem konservativen Weltbild – vielleicht unfreiwillig - selbst einer der Wegbereiter des neuen Regimes. Auch solche Leute wählen heute die Alternative für Deutschland.  

Die Schauspieler agieren teilweise auf einem Steg, der weit ins Parkett ragt. Löffner inszeniert fast eine Art Nazi-Revue, wenn sie sie auf rotem Teppich und auf einer Show-Treppe, vor silbernem Flitter-Vorhang und in allen Farben changierendem Hakenkreuz singen, tanzen und steppen lässt. Immer wieder wechselt die Aufführung aus dem realen, politisierten Geschehen in die Theatersituation, in der der Inspizient aus dem Off Anweisungen für die Theaterprobe ruft. Filmschnittartig wechseln die Szenen, Filmschnipsel aus alten Schwarzweiß-Streifen werden eingespielt, zum Teil mit hintergründiger Doppeldeutigkeit wird aus Dramen und Romanen der Weltliteratur zitiert, Rechtsrock und NS-Liedgut klingen an – langweilig wird diese kontrastreiche, mit Stimmungsschwankungen spielende Inszenierung nie.   

Neben Martin Horn überzeugt vor allem Anke Zillich als die blonde Matrone, Ministerpräsidenten-Gattin und Ex-Schauspielerin Lotte Lindenthal. Star des Abends ist aber Raiko Küster als Höfgen. Dem enthusiastischen, charmanten Schönling fliegen ganz selbstverständlich die Herzen des Publikums im Hamburger Künstlertheater zu – doch da ist er noch ein reines Theatertier und im realen Leben unsicher. Großartig beglaubigt Löffner diesen Charakterzug anlässlich der Hochzeit von Höfgen mit Barbara Bruckner: Immer wieder wird der Hochzeitstanz angehalten, und einzelne Gäste geben ihre Einschätzung des Bräutigams kund. Höfgen, so wird hier deutlich, ist der Außenseiter, der Eindringling in die bessere Gesellschaft. Er ist das Schattengewächs, das zum Licht drängt. Der nach Anerkennung giert und aus der Masse herausragen will, aber gerade darum zum Außenseiter wird. Er ist der brillante Tänzer, der in der Ehe mit Barbara impotent bleibt. Psychologisch wird seine Entwicklung zum karrieregeilen Opportunisten verständlich.

Großartig sind Küsters im Erfolg überheblich vorgetragenen Lieder, rasant spielt er die Szenen mit seiner Geliebten Julietta, widerlich biedert er sich an beim Berliner Intendanten und fällt dem Hamburger Theaterdirektor in den Rücken, der sich seinetwegen von dem kleingeistigen, nationalsozialistischen Idealen nacheifernden Hans Miklas getrennt hat. Sebastian, der Jugendfreund von Höfgens Lebensabschnittsgattin Barbara, charakterisiert ihn am treffendsten: „Er lügt immer. Und er lügt nie. Er ist ein Schauspieler.“„Sieht nichts, hört nichts, merkt nichts“, wird er später präzisieren, als Höfgen mit den Nationalsozialisten paktiert hat. Doch da ist längst ununterscheidbar, was Blindheit und was bewusstes Wegsehen ist. Höfgen ist zur Ich-AG geworden; er sieht nur sich und nicht die Politik, reflektiert die Politik allenfalls, wenn er sich ungeschickt verhalten zu haben glaubt – und reflektiert dann in Theaterfiguren: in der Literatur statt in der Realität.

Am Ende spitzt Löffner die Handlung und die szenische Darstellung zu. Die Gleichzeitigkeit von Anpassung und Opportunismus einerseits und dem nicht zu übersehenden Zynismus des Regimes andererseits werden von der Regie in überzeugenden, allerdings wegen des Unterhaltungscharakters der Inszenierung nicht wirklich schockierenden Bildern ausgestellt. Manchmal wirken die Bilder, die Löffner gefunden hat, ein wenig plakativ, doch die Inszenierung platzt geradezu vor Ideen und vor szenischer Phantasie. Wir erleben eine tolle Show mit ein paar Längen in denjenigen Szenen, die von der Regisseurin hinzuerfunden wurden. Und mit einer grandiosen Hauptfigur. „Sie, lieber Herr Höfgen“, sagt Michael Schütz in einer kleinen Ansprache zum Ende, „werden zu denjenigen gehören, die am zierlichsten über die ausgebrannten Leichen hüpfen.“ Genau das hat Raiko Küster herausragend gespielt.