Die Stimmen der Anderen
Am zweiten Tag des IMPULSE THEATERFESTIVALS 2016, das in diesem Jahr seinen Schwerpunkt in Düsseldorf hat und unter dem kryptischen Motto steht Start Cooking…Recipe Will Follow werden wir einzeln – exakt durchgezählt: 24 Personen – in den Keller der Kammerspiele gelassen. Was erwartet uns da? Evros Water Walk heißt der Titel der Inszenierung des Theaterteams Rimini Protokoll, das auch in NRW Freunden des avantgardistischen Theaters seit Jahren bekannt ist: 2003 erhielt das Team für Shooting Bourbaki den Impulse-Preis und 2007 für Karl Marx – Das Kapital bei den Mülheimer Theatertagen sowohl den Dramatiker- als auch den Publikums-Preis. Ein wichtiger Aspekt seiner Arbeiten ist das Experten-Theater, das heißt, sie holen Experten des Alltags auf die Bühne. Wer könnte das sein: Evros? Walk? Water?
Evros ist der Name des Grenzflusses zwischen Griechenland und Türkei, der – seit der passierbare Abschnitt 2012 durch Grenzanlagen abgeriegelt wurde - mehr und mehr zur Demarkationslinie der „Festung Europa“ wird. Viele Flüchtlinge, die es noch schafften, ihn zu überqueren, sitzen in Griechenland fest.
Sind es diese Über-den Fluss-Geflohenen, die wir auf der Bühne antreffen werden? „Walk Water“ ergäbe dabei ja einen Sinn, doch der Untertitel irritiert, er verweist auf eine Klang-Installation des Komponisten John Cage aus dem Jahr 1960. Damals hatte Cage in der populären amerikanischen Fernsehshow „I‘ve Got a Secret“ umgeben von kuriosen Gegenständen, die um das Thema “Wasser und Wellen” kreisen und Geräusche produzieren können – von der Quietsch-Ente bis zur Badewanne und allen möglichen Küchengeräten – Water Walk inszeniert. Und damit wir, die Theaterbesucher 2016, uns ein authentisches Bild von dieser Performance machen können, wird uns in einem Vorraum zur eigentlichen Spielstätte der dreiminütige Original-Clip der Show vorgespielt: Wir sehen Cage - seriös im eleganten Anzug – Blumen begießen, mit Mixer und Dampfkochtopf hantieren, Quietsch-, Schab- und Poltergeräusche produzieren.
Was damals als Provokation des bürgerlichen Kunstverständnisses in der Fluxus-Bewegung durchaus auch bei uns aufregte, nutzte Daniel Wetzel vom Rimini Protokoll im Jahr 2015 als Motivation und Folie für ein Projekt mit fünfzehn über das Wasser des Evros-Flusses geflohene junge Menschen aus Pakistan, Afghanistan, dem Irak und Syrien, die er in einem Flüchtlingshaus in Athen antraf. Er führte Interviews und erarbeitete schließlich mit Fünfen von Ihnen das Theaterprojekt Evros Walk Water – Ein Cage- Re-Enaktment.
Sie also, die minderjährigen Flüchtlinge, die Europa über das Wasser erreichten, sind die Experten des Stückes, für das im Keller der Kammerspiele alles vorbereitet ist. Doch keiner von ihnen kann dabei sein, denn sie dürfen nicht ausreisen. So müssen wir ihre Rollen an den „Instrumenten“ übernehmen. Wir sind Stellvertreter. Daniel Wetzel betont in einem Interview ausdrücklich, dass er das Projekt nicht als „Mitmachtheater“ verstanden wissen will, dass es vielmehr um die Repräsentation der jeweiligen Position geht. Wir sind die Repräsentanten der jungen Menschen, die uns dezidiert ihre Anweisungen geben. In uns sind sie anwesend. Jeder von uns erhält einen Audiohörer, in dem sowohl die Handlungsbefehle gegeben werden, als auch die Raumgeräusche zu hören sind. Das ist wichtig, denn während der gesamten Performance verweben sich die beiden Ereignisebenen: zum einen die Adaption des Cage-Konzertes, das durch die Instrumenten-Wahl und Geräuschvariationen das Fluchterleben vergegenwärtigen soll, zum anderen die Berichte und Gespräche der Asylanten, in denen sie ihre Flucht-, Leidens- und Überlebensgeschichten protokollieren. Jeder von uns ist also Zuhörer und Akteur zugleich. Nach Phasen der Berichterstattung, in denen von Misshandlungen, Vergewaltigungen und Mordversuchen, aber auch von Freundschaften und Lieblingsmusik gesprochen wird, folgen die Konzert-Handlungsphasen: In der Mitte des kleinen Raumes steht ein mit Wasser gefülltes Schlauchboot (sinnträchtig, nicht wie damals bei Cage eine Badewanne), dahinein müssen Blumen, Plastikfische und Spielgeräte expediert werden. Aber auch ein Plastik-Maschinengewehr, ein laut knatterndes Ferrari-Modell, Steine in einer Metallschüssel, ein Keyboard, rasselnde Ketten und vieles mehr produzieren einen wirren Geräuschemix. Sechsmal wird die Cage-Vorgabe nachgespielt. Sechsmal wechseln wir den Platz. Am Ende hören alle vierundzwanzig Mitspieler die gleiche Text-Einspielung: zwei sehr junge Protagonisten debattieren über ihre Handys, Facebook und Alltägliches. In Athen wie überall.
Zweifellos ist das ein anregender, unterhaltsamer und intelligent arrangierter Abend. Doch Betroffenheit, Empathie, Anteilnahme an den dramatischen Schicksalen der über den Evros geflohenen jungen Menschen will trotz der so drastischen wie anrührenden Texte nicht aufkommen. Zu dominant und zu unruhig ist der Handlungsanteil. Und zu spaßbesetzt sind die meisten der Geräuschproduktionen. Erkenntnisgewinn und Problemschärfung bleiben dadurch peripher.
Dennoch: Für die fünf jungen Akteure in Athen und die vielen dort an den Gesprächen Beteiligten sowie ihre Übersetzer war es zweifellos ein aufbauendes und zukunftweisendes Erlebnis und eine wichtige Erfahrung.