untitled (look, look, come closer) im Werft 77

Messer im Kopf

Die Werft 77 ist ein kleines Kunstzentrum in einer Gegend, in der das Klischee vom vornehmen, auf Äußerlichkeiten bedachten Düsseldorfer Schickimicki-Typen weiter entfernt scheint als die Bronx von der 5th Avenue. Der raue, unwirtliche Schuppen in einem nichtssagenden Teil des Reisholzer Industriehafens erscheint jedoch als idealer Ort für die jüngste Kunstaktion der österreichischen Choreografin und Regisseurin Christine Gaigg, die an der Entwicklung einer neuen Form der Performance-Kunst arbeitet: dem Bühnen-Essay. Der bedient sich nicht der großen performativen Geste, sondern der Miniatur: Die Aufforderung Look, look, come closer hat ihre Berechtigung, denn die Performer zeigen uns ihr Handwerk in intimer Runde an fünf beleuchteten Arbeitstischen: Töpfern und Modellieren, physikalisches Experimentieren, Modellbau, Kriegs-Ikebana und andere Bastelarbeiten. Kriegs-Ikebana? Ja ja, es wird gruselig. Die harmlose Bastelstunde evoziert grauenvolle Assoziationen.

Nacheinander erscheinen an den fünf Tischen die fünf Performer: stumm, konzentriert, mit ernsthaften, unbeweglichen Gesichtern. Kein Wort wird fallen an diesem Abend – mit Ausnahme eines per Lautsprecher eingespielten, von Christina Gaigg selbst eingesprochenen Textes des Dramaturgen Wolfgang Reiter. Den muss man nicht verstehen: Die semantischen Wortfolgen genügen, um emotionale Abwehrreaktionen auszulösen. Von der „Gestaltung des Schreckens und des Erhabenen“ ist da die Rede, von „Täuschen, Tarnen, Camouflage“, von Power, Macht und Stärke, die die Fähigkeit verleihen, jemanden zu verletzen. Von dem „berauschenden Effekt des Krieges.“ – An meinem Tisch erscheint als erster Lars Studer mit einem kopfgroßen Ballen Lehm. Ein langes Messer steckt in diesem Kopf – Messer im Kopf werden wir an diesem Abend noch häufiger spüren. Studer knetet zunächst einmal ein Phallus-Symbol, Sinnbild der Unterwerfung Schwächerer und der aggressiven physischen Virilität. Aus dem Phallus wird ein menschlicher Torso und schließlich ein sitzender Mann, der mit triumphaler Bedrohungsgeste ein Gewehr in die Luft hält. Es ist ein Bild, wie wir es von Terroristen und IS-Kämpfern kennen. Längst ist der begleitende Soundtrack von Klaus Schedl ins Bedrohliche, nein: ins Schmerzhafte angeschwollen, als das Messer zum Einsatz kommt: Dem Menschen werden die Füße abgeschnitten. Und ratsch: wird er zusammengeschlagen, -geklappt, -gebrochen. Was bleibt, ist ein Klumpen Lehm. Oder ein Klumpen Fleisch? Ohne Worte und ganz leise hat Lars Studer uns eine Horror-Geschichte erzählt, die wenige tausend Kilometer von uns entfernt real werden kann.

Es folgt: die Chemie-Laborantin. Juliane Werner hat einen Topf mitgebracht – und jede Menge Trockeneis. Im Topf beginnt das zu brodeln; der Nebel wallt, läuft über aus dem Topf und verteilt sich als wogendes Meer auf dem Tisch. Ein winziges Papierschiffchen hat Werner auch dabei – sehen wir das Meer, in dem die Flüchtlinge ertrinken? Über dem Topf entsteht aus dem Trockeneis ein Pilz – ein Atompilz, der zu dem explodierenden Soundtrack zur Implosion gebracht wird. Das Schiff, das Werner auf die Spitze des Pilzes gesetzt hat, gleitet langsam, aber unaufhaltsam in die Tiefe, so unaufhaltsam und so steil in der Gischt des Trockeneises stehend wie das Boot des alten Fischers in Edgar Allan Poes „Der Malstrom“. Apokalyptisch wirkt Werners Geschichte: ein Wirbelsturm, eine Atomkatastrophe, ein ganz normales Schicksal eines Flüchtlingsbootes. Und ein kleines Bild, das sich eingraben wird in unser Langzeit-Theatergedächtnis.

Frans Poelstra trägt einen schicken blauen Business-Anzug. Er ist wohl der Schreibtischtäter. Ein Zeichenbrett und ein Stück gelbes Papppapier genügen ihm für die Planung der Massenvernichtung. In Windeseile ist ein Maschinengewehr aus dem Papier geschnibbelt. Ohne jegliche Regung richtet er es auf uns Zuschauer, einmal rund um den Tisch – es ist für gut befunden. Ein Tor wird gebaut und zwischen seinen Pfosten ein Seil gespannt – die Buchstaben FEAR hängen bald daran. Und wechseln in NEAR. Weit sind wir nicht entfernt von den Orten kriegerischer Auseinandersetzungen, von den Orten existenzieller Angst. Auf denen Militärs wie Alexander Deutinger wüten, der im Tarnanzug erscheint und seine Rasierer auseinander genommen hat, von denen er offenbar eine große Kollektion besitzt. Die einzelnen Komponenten werden als schweres Kriegsgerät auf dem Schlachtfeld der steril-weißen Tischplatte verteilt; Spritzen werden zu Türmen, ein Rotes-Kreuz-Zelt entsteht. Mein Nachbar hält sich längst die Ohren zu, so schmerzhaft, so kakophonisch und so ungeheuer laut ist die Komposition von Klaus Schedl. Noch beim Aufräumen entstehen aus Deutingers Rasierer und den Spritzen gefährliche Kanonenwagen.

Last, but not least tritt Marta Navaridas an unseren Tisch. Vielleicht haben wir Glück mit der Reihenfolge, vielleicht ist es nur die zunehmende Einfühlung in den Kontext dieser Performance, dass uns dieser fünfte Teil von Christina Gaiggs Kriegs-Collage der erschreckendste scheint. Die schöne Marta hat ein eiskaltes Herz. Drei Flaschen mit tödlichen Mixturen hat sie mitgebracht. „Nitro-Verdünnung“ steht auf der ersten. Navaridas heftet ein selbst gemaltes Banner daran. Es zeigt eine vermummte Gestalt, die auf zwei kniende Gefangene zielt. Die Aufschrift der zweiten Flasche lautet: „Molotow Premium“. Auf dem angehefteten Bild schneidet eine verhüllte Figur einem Menschen den Kopf ab. Die Konstruktion, die Navaridas auf den Tisch gestellt hat, gleicht einem Galgen. Und tatsächlich: Aus dem Halsabschneider wird ein Hangman. Auch die dritte Konstruktion ist ein Galgen. Auf dem Bild: das Portrait einer Frau, so attraktiv wie Marta selbst, mit einem züchtigen Schleier. In Schussposition, mit einem Gewehr. Als Navaridas abgeht, besprüht sie die Schützin mit roter Farbe. Wird sie selbst erschossen? Konsequent zu Ende gedacht, ist es in dieser Inszenierung wohl das Blut der Opfer, das der jungen Frau ins Gesicht spritzt.

Gaiggs Bühnen-Essay wird, wie sich das für einen Essay gehört, sachlich und emotionslos dargeboten. Doch er kriecht ganz langsam in die Gehirnwindungen und krallt sich dort fest – und zwar unabhängig von der Musik, die in der Kooperation von Gaiggs „2nd nature“ und Schedls „netzzeit“ für die Schmerzen und die Emotionen zuständig ist. Zu Beginn löst der Abend Interesse aus, dann mehr und mehr Erschrecken. Faszination auch, ja, soviel Voyeurismus darf sein. Doch was bleibt, ist das Grauen. Und dieses Grauen liegt so nahe.