Was ist gut in Afghanistan?
Vor uns die große schwarze, fast leere Bühne des FFT Juta. Nur die Rückwand ist hell und wird während der gesamten Performance als Projektionsfläche dienen. Vorne links ein Video-Pult, rechts ein Kleiderständer und davor das Audiopult, von dem aus die Musikerin Katharina Kellermann die Aufführung musikalisch und geräusch-atmosphärisch begleiten wird. Wichtige Klang-Eckpunkte sind verabredet, alles andere ist Improvisation: da wechseln schrille Elektro-Sounds mit monotonen Background-Passagen, bedrohliches Flugzeugmotorengebrumm und Waffengerassel mit Liedfetzen und Alltagsgeräuschen, alles als Variationen einer fast durchgängigen Sound-Fläche. Doch eingestimmt werden wir zunächst mit folkloristisch anmutenden Klängen, dazu erscheinen Landschaftsbilder der afghanischen Berge im Hintergrund, und Tänzer (Toni Jessen, Frank Koenen, Akemi Nagao, Maria Walser) - zunächst bepackt mit monströsen Gepäckstücken - bewegen sich rhythmisch-verhalten im Bühnenraum. Immer wieder werden sie im Laufe des Abends auftreten, mal dramatisch-exaltiert und leidenschaftlich, verzweifelt gegen imaginäre Hindernisse ankämpfend, mal beruhigend, vielleicht resignierend.
Nach unterschiedlichen Schwarzweiß-Stadt- und Landschaftsbildern auf der Rückwand erscheinen plötzlich fünfunddreißig farbige Portraits, fast statische Videos von Afghanen und Afghaninnen, Soldaten und Soldatinnen der US-Armee und der Bundeswehr, Journalistinnen, Diplomaten und Wissenschaftlern. Sie alle schauen uns schweigend an und dennoch sind es zumeist ihre Worte, die wir in den zwei folgenden Stunden hören werden. Sie sind die Befragten, mit denen die Performer die Interviews zur Lage in Afghanistan führten, sie sind die „Experten“, aus deren Erfahrungen, Meinungen, Behauptungen, Befürchtungen und Hoffnungen sich das Material des Abends speist. Conversion/Nach Afghanistan ist die künstlerische, kunstvolle Annäherung, Aneignung, Verarbeitung und Präsentation ihrer vielstimmigen und oft diametral widersprüchlichen Situations-Beschreibungen und –Bewertungen.
Kurz bevor im Dezember 2014 der deutsche ISAF-Einsatz in Afghanistan endete, reisten Felix Meyer-Christian, Jascha Viehstädt und Stefan Haehnel an den Hindukusch, um Menschen vor Ort nach der Situation des Landes, seiner Bewohner und aller am Geschehen Beteiligten zu befragen. Einfluss und Sinn des Einsatzes sowie Spuren, die er hinterließ, wurden thematisiert. Fragen nach der Rolle der Frau und der Bedeutung der Taliban wurden gestellt und erschreckend kontrovers beantwortet.
Aus der Unmenge des dokumentarischen Materials komponierten die Performer ein Stück, das in Sound, Tanz, Video und Text die Widersprüchlichkeit aber auch Zuversicht eines Landes im Zwischen-Stadium darstellt.
Auf der Bühne übernehmen Schauspieler und Tänzer die Rollen der Betroffenen, stellen teils wörtliche Zitate von Befürwortern und Kritikern des Frauenbildes, der Taliban oder des Truppeneinsatzes gegeneinander. Dabei verknüpft den Textteil der fiktive „Brief“ einer Afghanin als narrative Klammer, ein Schreiben, das von Hauke Heumann als Stimme des fiktiven Adressaten als fortlaufender Monolog in indirekter Rede vorgetragen wird und grundsätzliche Fragen zu Wahrheit und Moral, zu Legendenbildung und Sackgassen artikuliert. „Sie schrieb…“, setzt er immer wieder aufs Neue an, um die Gedanken, Meinungen und Erwartungen vieler unterschiedlicher Gesprächspartner, die vom Autor in diesem „Brief“ zusammengefasst wurden, nachdenklich vorzutragen.
Mitten hinein in die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Geschehen einer fernen Welt, die uns in ihrer Ambivalenz so eindringlich nahe rückt, entwickelt sich eine amüsante Luft-Installation: ein riesiger weißer Plastikschlauch - von mehr als einem halben Meter Durchmesser - füllt den Bühnenraum und wälzt sich im gesamten Zuschauerraum über uns hinweg, um sich dann, von uns nach oben gestoßen, wieder zurückzuziehen. In einer späteren Szene überwuchtet eine zeltartige weiße Stoffblase die ganze Bühne, nimmt die Darsteller in sich auf: aus dem Inneren erreicht uns ihr Spiel schattenspielhaft, bevor sie dann wieder auftauchen und von außen die schwer zu bändigende Fülle niederzukämpfen suchen. Ein eindrucksvolles Spektakel als Metapher der unbestimmbaren, schwer kontrollier- und beherrschbaren Realität.
In eindrucksvollen Bild-, Sound- und Tanzkompositionen, arrangiert mit intelligent montiertem Text aus dokumentarischen und essayistischen Anteilen, gelingt es der Performance-Gruppe „Costa Compagnie“, sich mit künstlerischen Mitteln Erfahrungen einer heterogenen afghanischen Gegenwart anzueignen, sie in einen politischen wie auch emotionalen Kontext zu übersetzen und bei aller Bestürzung, einen Hoffnungsschimmer aufblitzen zu lassen.
„Nichts ist gut in Afghanistan!“ behauptete Margot Käßmann in ihrer Neujahrspredigt 2010. Ganz so pessimistisch lässt uns dieser Theaterabend 2016 nicht zurück.