Kinder an die Macht?
Kinder, wie die Zeit vergeht! Schon zweimal war Regisseur Sebastian Nübling mit den Jugendlichen vom Jungen Theater Basel zum Impulse-Festival eingeladen: im Jahre 2002 mit Edna Mazyas Die Schaukel und vier Jahre später mit Lukas Moodyssons Fucking Åmål. Die Aufführungen waren noch eindeutig dem Genre des Schauspiels zuzuordnen. Beide Inszenierungen belegten überzeugend, welche herausragende Qualität Laien-Aufführungen unter der Leitung eines erfahrenen, einfühlsamen Profi-Regisseurs erreichen können. Damals war noch der legendäre Dietmar N. Schmidt der Kurator des Festivals. Auch der wollte schon unter dem Motto „Fördern, was es schwer hat“ Theater abseits des Mainstreams anbieten. Zehn Jahre später ist Dietmar N. Schmidt tot, Sebastian Nübling in der Champions League der deutschsprachigen Theater-Regisseure angelangt und das Impulse-Festival zu einer Leistungsschau der performativen Avantgarde geworden. Und die neue Generation der Jugendlichen vom Jungen Theater Basel hat mit irgendwelchen Anklängen an klassisches Schauspiel nichts mehr am Hut, mit postdramatischem Ballyhoo umso mehr. Und mit einem unbezwingbaren Drang nach Freiräumen und Veränderungen.
Sie stöpseln ihre Smartphones in die Anschlüsse am zentral vom Schnürboden hinabgelassenen Boxenturm, zitieren das angebliche Vorurteil der Außenwelt, demzufolge die heutige Jugend aus Medien-Zombies bestehe, und filmen einander bei ihren Statements in Großaufnahme mit ihren Handys. Die Bilder werden auf vier riesigen Leinwandbahnen widergespiegelt, die die Performer zunächst umständlich hochgezogen haben – man kann die gemeinsame Einrichtung der Bühne vor mäßig interessierten zahlenden Beobachtern als eine Art Teambildungs-Prozess interpretieren. „The kids are united / they will never be divided“, werden sie später singen. Die kämpferisch gemeinte Parole erinnert eher unbeabsichtigt an Grönemeyers gutmenschelnde Hymne „Kinder an die Macht“. Die Zuschauer stehen während der gesamten Performance auf der Bühne, und die Jugendlichen verschaffen sich nicht nur mit Worten, sondern sehr physisch ihre Freiräume: Mit Tempo laufen sie mit Kameramann und Mobile Phone in die Zuschauermenge, und wir retten uns manches Mal durch einen Sprung zur Seite. Dass wir dabei auch mal dem Nachbarn rempelnd auf die Füße treten, ist zwar ganz lustig, doch auch das könnte ja metaphorische Bedeutung haben, wenn die Jugendlichen ihren Blick über die eigene Befindlichkeit hinaus lenken wollten: Freiräume schaffen ist oft mit der Beschränkung des Freiraums anderer verbunden, jedenfalls wenn man so radikal vorgeht wie die Jugendlichen es im Verlauf des Abends noch postulieren werden.
Darüber muss man aber zugegebenermaßen in pubertärem Alter noch nicht nachdenken. Nachgedacht haben die Kids aber über gesellschaftspolitische und philosophische Theorien und Forderungen von aktuell sich als intellektuelle Vordenker inszenierenden Menschen wie der Feministin Laurie Penny, dem Post-Internet-Künstler Ryan Trecartin und dem Akzelerationismus-Philosophen Armen Avanessian. Ab und zu steigt eine(r) der Performer(innen) auf einen aus Holzpaletten gebauten Turm oder balanciert in prekärer Lage auf den Schultern der Kombattanten und zitiert aus den Werken seiner Denker-Helden – wie monolithische Blöcke stehen diese Passagen in der ansonsten stark emotionalisierten Aufführung. Die hat sowohl eine private wie eine politische Ausrichtung. Die private ist in einigen Momenten durchaus berührend, denn da werden recht prekäre Lebens- und Familienverhältnisse angedeutet. Natürlich ist auch Sex ein Thema bei den Jugendlichen, und auch hier wollen sie sich keine Grenzen setzen lassen. Andererseits ist die Geschlechtereinteilung für die jungen Menschen bereits eine der vielen Kategorisierungen, gegen die sie sich vehement wehren – eine Kategorisierung wie blaue und rosafarbene Kinderwagen, unterschiedliche Blöcke im Stadion, Arm und Reich, Mittel- oder Oberklasse. Von einer Sehnsucht nach queeren Ideologien und fließenden Identitäten ist die Rede – Raum schaffen, Ich ist ein anderer. Wenige Szenen später konterkariert ein unbedacht im Textentwurf verbliebener Satz das Ganze wieder: In einer Kritik des Schönheitskults heißt es einmal, mit den Dicken könne man viel besser relaxen. Ist das keine Kategorisierung? Zumindest ist es eine unangemessene Pauschalierung. Nicht weiter schlimm, passt aber nicht zu den vorherigen radikalen Forderungen.
Die Haupt-Stoßrichtung der Performance ist aber eine radikale Kapitalismuskritik. Leider ohne intellektuelle Auseinandersetzung mit dem verhassten System – und ohne den leisesten Versuch zum Entwurf einer anderen Option. Das hört sich dann so an: „Wir beteiligen uns nicht am Kapitalismus, weil uns das Kapital nicht interessiert.“ Oder: „Nur wenn der Kapitalismus mit vollem Karacho vor die Wand fährt, so dass er nicht mehr zu retten ist, entsteht vielleicht Platz für etwas Neues.“ Und fröhlich rennt man skandierend durch die Zuschauer als Kinder-Demo gegen den bösen Neoliberalismus. Inhaltlich kommt da nicht viel.
Ist die Aufführung also misslungen? Nein, denn die hochenergetische, rasante, oftmals akrobatische Performance kann mitreißen. Die achtköpfige Truppe mit multikulturellen Wurzeln ist konditionell und sportlich ebenso auf der Höhe wie in der Nutzung der digitalen Medien; einige Jugendliche beweisen ihr schauspielerisches Talent. Überzeugend vermittelt die Truppe ihre Energie und Einsatzbereitschaft, die sie anders nutzen will als die Generationen vor ihnen. Es ist der Schrei nach Befreiung, der zur Pubertät gehört und unerlässlich ist für die Entwicklung einer eigenen Identität. Als solche, als vielleicht etwas überdrehte Beschreibung des Lebensgefühls eines Teils der jungen Generation ist dies ein interessanter Abend. Wie man eine an der Occupy-Bewegung orientierte Kapitalismuskritik ebenso energetisch, aber reflektierter, zielgerichteter und phantasievoller darstellen und dabei sogar noch radikaler auftreten kann, hat vor vier Jahren ein ganz kleines Jugend-Amateurtheater aus unserer Region vorgeführt. Das spinaTheater aus Solingen kennt im Gegensatz zum Jungen Theater Basel kein Schwein, und der heute im Filmbereich arbeitende Regisseur Christoph Stec kann von dem Bekanntheitsgrad von Sebastian Nübling nur träumen. Aber die „99 Prozent“ (siehe hier), die Stec mit den Solingern zur Aufführung brachte, stecken Nüblings Noise locker in die Tasche.
Der laute, erneut mitreißende, im Stroboskop-Licht gespielte Schluss-Act der Aufführung wird zum emotionalen Höhepunkt der Inszenierung. Die Jugendlichen stellen fest, dass man zur Weltveränderung zunächst einmal eine Bewegung gründen müsse. Teambildung auch hier: „Wenn wir schon nicht das Gleiche wollen, dann wenigstens gemeinsam“, heißt es sinngemäß. Und „Bewegung darf nicht irgendwo ankommen, wo sie wieder zum Stillstand wird.“ Stillstand gab es an diesem Abend nie, angekommen ist man auch nirgendwo. Das hat uns gut unterhalten. Noch etwas haben die Baseler erkannt: „Wenn die Bewegung etwas bewegen will, muss sie wachsen.“ Das haben die neoliberalen alten Herren ja immer schon gesagt. Genau deshalb brauchen wir Wachstum.