Das Blau in der Wand im Recklinghausen Ruhrfestspiele

O Zeit, rasender Stillstand!

Tankred Dorst ist im vergangenen Dezember 90 Jahre alt geworden. Er hat ein neues Stück geschrieben. Sein Regisseur David Mouchtar-Samorai, geboren im Jahre 1942, ist gegen ihn ein junger Hüpfer. Die Rentnerband ist auserkoren, eine neue Ära zu eröffnen. Denn die Uraufführung von Das Blau in der Wand bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen ist quasi ein Frühstart in die neue Intendanz von Wilfried Schulz am koproduzierenden Düsseldorfer Schauspielhaus, die im September 2016 beginnt. Nicht jeder Frühstart ist ein Fehlstart…

Dorst ist längst eine Legende. Nicht zuletzt in Düsseldorf: Die Villa, Heinrich oder Die Schmerzen der Phantasie, vor allem aber Merlin oder Das wüste Land, nicht nur seiner Länge wegen „das größte Schauspiel, das nach dem zweiten Weltkrieg das deutsche Bühnenlicht erblickt hat“, wie der FAZ-Theaterkritiker Andreas Rossmann in einem im Programmheft abgedruckten Aufsatz zu Dorsts 90. Geburtstag schreibt, erlebten in Düsseldorf in den Jahren 1980 bis 1985 grandiose Uraufführungen, und in den 70er Jahren war Peter Zadeks Inszenierung von Dorsts Eiszeit im benachbarten Bochum eine von fünf oder sechs Theateraufführungen, die den Schreiber dieser Zeilen beinahe vom rechten Weg des Bankers ab- und dem fahrenden Volk der Theaterleute zugeführt hätte. Zehn Jahre später als Dorst wurde Mouchtar-Samorai ne Düsseldorfer Jong: Peer Gynt, Ein Traumspiel, Sommergäste sind nur einige der mit leichter Hand und hochpoetisch hingeworfenen Inszenierungen, mit denen der in Bagdad geborene israelische Regisseur das Düsseldorfer Publikum verzauberte, und selten sah man eine schwebeleichtere, traumverlorenere Inszenierung von Lorcas Doña Rosita als 1996 von Mouchtar im nahen Bonn. Das alles ist ein paar Tage her. Jetzt eine Uraufführung von den alternden Helden ins Programm zu nehmen, wirkt, als wolle man die allfällige Sehnsucht der Zuschauer nach den guten alten Zeiten befriedigen. Doch siehe da: Dorst und Mouchtar-Samorai haben nichts von ihrer Könnerschaft verloren.

Zur Inhaltsangabe genügt es, die Seite mit den „dramatis personae“ zu lesen. „Er“ und „Sie“ treten auf – „ein Paar, das sich in einer einzigen langen Szene durch das Leben redet bis in den Tod und darüber hinaus“. Das ist schon alles. Das wirkt wie aus der Zeit gefallen: kein Flüchtlingsdrama, kein Weltuntergang, keine Kapitalismuskritik, keine Finanzkrise. Und doch ist es eine ganze Welt. Denn es ist das Alterswerk eines wahren Weisen. 90 Jahre haben Dorst vielleicht auch milde gestimmt: Finanzkrise – so what? Im Rückblick auf ein Leben spielt sie nicht wirklich eine Rolle. Schreibkrisen schon eher: „Er“ ist ein Journalist, der seit Jahren an einem Roman schreibt, der niemals fertig werden wird. Ehekrisen gibt es auch – sind sie nicht viel existenzieller als Finanzkrisen?

Das erste Stück in der Verantwortung des neuen Düsseldorfer Intendanten könnte heißen wie das letzte in der Verantwortung des alten: Biografie: Ein Spiel. Dorst schreibt kurze Szenen mit kurzen Dialogen, und er schreibt sie mit viel Humor und überwiegend sanguinischem Temperament. Manchmal auch melancholischem, elegischem. Kein Wort ist zu viel, aber jedes Wort ist bedacht; Zeitsprünge und Auslassungen sind perfekt gesetzt. Das Alterswerk ist auch ein Meisterwerk der kleinen Form. Text und Inszenierung wirken auf eine gediegene Weise altmodisch, aber Dorst ist auf der Höhe der Zeit mit seinen behutsamen, unaufdringlichen, wie nebenbei daherkommenden Verweisen auf Probleme der Zeit. Probleme der Zeit – auch in übertragenem Sinne: Es geht auch um Probleme der Vergänglichkeit. Das „Blau in der Wand“ ist ein Fleck in einer Wand eines unter Denkmalschutz stehenden Hauses, das „Er“ und „Sie“ bewohnen. Ursprünglich hatte „Er“ den Umzug in ein solches Haus abgelehnt, jetzt - inzwischen in höherem Alter angelangt - ist er neugierig auf das, was hinter diesem Blau steckt. Ein Bild vielleicht, ein Kunstwerk? Doch statt es freizulegen, bestimmt der Denkmalschutz, es zuzukleistern – und so das eventuelle Kunstwerk zu schützen und zu bewahren. Vom Genuss durch die Bewohner aber wird es dadurch abgeschottet.

Man kann diese Szene lesen als eine wunderbare Metapher für den Umgang mit der Vergänglichkeit, die man so oder so nicht aufhalten kann. Mit der Vergangenheit: Aufdecken oder verschüttet lassen? Mit dem Leben - Genuss mit Risiko oder Sicherheit? Man kann die Szene (und die sich ändernde Einstellung des Protagonisten) aber auch ganz einfach einreihen in die vielen banalen und weniger banalen Anlässe für Meinungsverschiedenheiten im Zusammenleben eines Paares. Die schildert Dorst schon im Stadium der Paarfindung ausgesprochen komödiantisch. Sehr amüsant ist die Szene des Flirts und der Ablehnung geschrieben, in der „Er“ und „Sie“ sich auf der Parkbank näherkommen. Sie schwanger mit „Ganymed“, dem später so geliebten und in der Schwangerschaft kaum angenommenen Kind, er findet „Schwangere grässlich“ und glaubt im gleichen Atemzug, „wir werden uns gut verstehen“.

Ganymed, der Schönste aller Sterblichen, von Zeus geliebt - da hat Dorst dem Sohn, über den es ab und zu Streit gibt, ein liebevolles Denkmal gesetzt. Schnell wird klar, dass „Er“ und „Sie“ den Dramatiker selbst und Ursula Ehler, seine langjährige Muse, Lebensgefährtin und „Mitarbeiterin“ (wohl eher: Ko-Autorin) seiner Werke, repräsentieren. Genau das macht diesen ohnehin ausgesprochen sensibel auf die Bühne gebrachten Abend so ungeheuer berührend: Der Autor selbst, die lebende Legende, redet sich bis in den Tod und darüber hinaus. Natürlich hat Dorst fiktionale Literatur geschaffen, aber mutig, weil nahezu unverschlüsselt wirft er Blicke auf sein eigenes Leben. Auf zwei Menschen, die sich lieben und streiten, sogar einmal an der Schwelle zur Trennung stehen, die aber für einander geschaffen scheinen – Botho Strauß‘ Metapher vom „menschlichen Vierfuß“ scheint auf dieses Paar zuzutreffen, und der „menschliche Vierfuß ist auf Erden das höchstentwickelte Lebewesen“, wie wir aus dem Kuss des Vergessens wissen (und bei langjähriger Gefolgschaft von Tankred Dorst und Ursula Ehler ahnen). Der 90jährige wirft Blicke auf Alter und Tod. Sein Merlin wird mehrmals zitiert – direkt und indirekt: „Jahrhunderte, verbraucht und dennoch gegenwärtig!“, heißt es da, „O Zeit, rasender Stillstand.“ Oder, weit gegen Ende schon, in einer volksliedartigen Arie aus King Arthur, dem Merlin-Äquivalent von Henry Purcell: Your hay it is mow'd and your corn is reap'd …“ – So sanguinisch der Hauptdarsteller, so melancholisch werden wir im Parkett. Es gibt noch eine hauchzarte Szene einer Altersliebe – und dann: Rasender Stillstand. / Hör auf, hör auf. / Zeit, oh, Zeit.“

Karin Pfammatter und Heikko Deutschmann bringen den Text wunderbar zum Klingen. Pfammatter ist temperamentvoll, ab und an aufmüpfig, und sie verhilft dem Humor des Stücks zur Geltung, der im Vergleich zum Leseerlebnis in Mouchtar-Samorais Inszenierung ein wenig zu kurz kommt. Deutschmann gibt das literarische Alter Ego des Dramatikers mit größerer Ruhe, manchmal etwas elegischer Melancholie und einer immer souveränen Lebenseinstellung. Mit Ausnahme vorübergehender Ausbrüche: In einem Anflug von Wut zertrümmert er einmal eine Tiffany-Lampe. Das ist einer der Momente, in denen der Dritte Mann sich aus dem traumschönen Drahtgitter des Bühnenbildes löst. „Wir waren immer zu dritt. Du und ich und der andere. … Der Tod“, sagt „Er“ einmal in einer anekdotischen Erzählung. Der Tod, dargestellt durch den Tänzer Ralf Harster, ist während der 80minütigen Aufführung stets anwesend, tritt gelegentlich stumm in den Vordergrund. Bei dem Wutanfall lächelt er und räumt tanzend die Scherben auf. Er, der im Hintergrund wartet, weiß, dass er den Sieg davontragen wird. 

Mouchtar-Samorai hat ein großartiges Werk über das Leben und die Liebe, über Eindeutigkeit und Endgültigkeit inszeniert. Als der Dichter verstorben ist, kommt der Tänzer noch einmal auf die Bühne und spricht einen Epilog: „Nie war etwas endgültig und eindeutig in ihrem gemeinsamen Leben …“ – Das einfache Stück hat eine einfache Botschaft: Das große Buch, der große Roman unseres Lebens wird nie zu Ende geschrieben sein. Und nichts in unserem Leben ist eindeutig, fassbar und vorbestimmt – außer dem Tod.

Als Dorst nach geraumer Weile den Raum der Premierenfeier betrat, stoppten die Gespräche. Langer, langer Applaus brandete auf. Es war zu spüren: Dieser Applaus galt nicht nur der Aufführung dieses Abends: Er galt einem Lebenswerk. Manchmal glaubten wir an diesem Abend zu ahnen, dass Dorst in vollem Bewusstsein mit Blau in der Wand sein letztes Stück geschrieben hat. Aber angeblich textet er schon wieder. „Ich rede gern“, sagt der junge Mann am Anfang des Stücks. Der alte hat noch viel zu sagen.