Es ist was faul im Staat Mykene
Man sollte vermuten, dass eine Aufführung, die vor 21 Jahren zum weltweit beachteten Theater-Skandal wurde, heute nur noch ein lauer Aufguss längst überwundener Tabus ist. Kann eine solche Inszenierung heute noch ein Publikum schockieren? Sie kann. Romeo Castelluccis Lesart von Aischylos‘ Orestie zerrt an den Nerven. Sie schmerzt. Sie ist unerträglich laut. Sie ist unerträglich dunkel. Sie provoziert durch Hässlichkeit und Brutalität. Ihre Bilder sind so enigmatisch, dass sie nur ein studierter Altphilologe und ausgewiesener Kenner der Bildenden Kunst von der Antike bis zum 20. Jahrhundert entschlüsseln kann. Sie fasziniert und irritiert, und in der heller ausgeleuchteten und auch akustisch deutlich ruhigeren zweiten Halbzeit zeigt sie erlesene Bildkompositionen: Die Tragödie, so sagt der Regisseur, biete unaussprechlichen Horror in der Form eiskalter Schönheit. Manchmal wird die Aufführung zum reinsten Ekeltheater, aber das Ekeltheater ist so formbewusst, dass man sich seiner Ästhetik schwer entziehen kann. Veritable Bücher und Dissertationen sind bereits über diese Inszenierung geschrieben worden, von schlaueren Menschen als dem Schreiber dieser Zeilen. „Schön, dass sie sich darauf einlassen“, sagt die Pressesprecherin Petra Herrmann, als sie mir die Eintrittskarte übergibt. Ich versuch’s.
Die Radikalität von Castelluccis Inszenierung beginnt schon beim Besetzungskonzept. Mit etwas Glück findet man im Netz den Casting-Aufruf für die Wiederaufnahme. Da wird eine „extrem korpulente“ Frau für die Rolle der Klytämnestra gesucht – zu sprechen habe sie nur „a few lines“. Ziemlich kurz und korpulent soll die Elektra sein, die ebenfalls wenig zu sagen hat; extrem dünn und mindestens 1,90 m groß der Pylades und ganz jung und ebenfalls next to magersüchtig der Orest – beide ohne Text. Nur Aigisth sei bitte ein Schönling: muskulös und mit einem perfekten Körper. – So kommt es denn auch: Die Damen Klytämnestra und Kassandra sind nicht nur korpulent, sondern – Verzeihung – wahre Fettberge, die offensichtlich unter einer Stoffwechselkrankheit leiden und oftmals nackt zu bewundern sind, während Agamemnon von einem Schauspieler mit Down-Syndrom gegeben wird. Castelluccis Inszenierung ist auch eine Freak Show, und mehr als einmal befällt den üblicherweise jeden Verstoß gegen political correctness beklatschenden Rezensenten das mulmige Gefühl, hier einer unzulässigen Instrumentalisierung von Menschen mit Behinderung beizuwohnen, einer modernen Version der Abnormitätenkabinette vergangener Jahrhunderte. Aber erstens hat Marika Pugliatti als Klytämnestra erkennbar Spaß auch an ihren zahlreichen Nackt-Auftritten im milchigen Aquarium-Glas (tatsächlich legt der Regisseur Wert darauf, dass seine Darsteller sein Besetzungskonzept verstehen und akzeptieren), und zweitens verfolgt Castellucci mit seiner visuellen und akustischen Schock-Therapie durchaus ernstzunehmende Anliegen.
Agamemnon, sagt er, wird von einem Menschen mit Down-Syndrom verkörpert, weil der mykenische Herrscher „der Monarch war, der bestimmte, der sich auf keine Diskussion einließ.“ Die pfundige Klytämnestra liege „auf dem Drama … so schwer wie ein Stein.“ Orest und Pylades irrlichterten über die Bühne wie zwei aufrechte Hungerhaken, die nicht wirklich zu fassen seien. Apollo, der Gott des Lichts und der Künste, aber auch der Anstifter der Morde, wird durch den behinderten Giuseppe Farruggia verkörpert. Er hat zwar schwarze Todesflügel, doch für die Ausübung eines Mordes fehlt ihm der wichtigste Körperteil: Er hat keine Arme. Und so benötigt er Orest für die Ausübung der Tat. Castellucci, so schreibt die griechische Theaterwissenschaftlerin Eleni Papalexiou, die sich in ihrem wissenschaftlichen Werk intensiv mit dem Regisseur auseinandergesetzt hat, nutzt den Körper als Rohmaterial. Ihn interessieren die physischen Besonderheiten des Körpers, den er einsetzt wie eine Metapher, nicht die psychologische Entwicklung von Charakteren. Papalexious Argumentation, dass Castellucci seinen Schauspielern durch den Verzicht auf psychologisierende Konzepte die Spontaneität und die Improvisationskraft erhalte, ist zu widersprechen. Kompromisslos presst der Regisseur die Akteure in ein enges interpretatorisches Korsett. Zuzustimmen ist der Wissenschaftlerin allerdings, wenn sie darauf hinweist, dass Castellucci unser antrainiertes Referenzsystem im Hinblick auf Schönheit und Hässlichkeit, auf Angemessenheit und Provokation aufs Äußerste herausfordert.
In ähnlicher Form sind die Bilderwelten zu interpretieren, die Castellucci in seiner Inszenierung entwirft. Der Regisseur versucht sich nicht an einer großen intellektuellen Neudeutung der antiken Tragödie, sondern er übersetzt die Wucht, die Dramatik, die Brutalität und die Unausweichlichkeit eines von Rachegöttinnen mitgesteuerten Schicksals in wuchtige Bilder und – zumindest vor der Pause – in einen brutalen Soundtrack. In vollkommener Düsternis spielt die erste Hälfte der Aufführung, die den siegreichen Agamemnon aus Troja zu seiner Ehefrau zurückkommen sieht, die ihn dann als Rache für die Opferung der gemeinsamen Tochter Iphigenie tötet. „Feuer – das ist die Botschaft, die mir mein Mann aus Troja sendet“, sagt Klytämnestra mit elektronisch ins Hässliche verzerrter Stimme. Sie trägt das Feuer weiter: Es heulen Sirenen; Flammen werden von einem alten Filmprojektor auf den durchsichtigen Vorhang projiziert, hinter dem die gesamte Aufführung spielt. Stühle scheinen durch die Lüfte zu schweben; menschliche Körperteile hängen im Raum wie in der Auslage einer Metzgerei. Gleich zu Beginn sind wir mitten in der Apokalypse, in einer surrealen Hölle. Marcel Duchamps „Fahrrad-Rad“ scheint einerseits Aigisth als Sex-Spielzeug zu dienen, soll andererseits aber wohl auch die Fortdauer des Weltenbrands durch die Jahrhunderte symbolisieren. Quer durch die Jahrhunderte gehen auch die Zitate aus der Bildenden Kunst, die Castellucci verwendet: Duchamp und immer wieder das verzerrte Menschenfleisch von Francis Bacon aus dem 20. Jahrhundert, Goya aus dem 18./19. Jahrhundert, Brueghel aus der Renaissance. Und manchmal denkt man, Castellucci habe eine Hexenversion von Robert Wilsons Schattentheater erfunden.
Kassandra, dick und nackt, sitzt in einem gläsernen Container wie ein Buddha, jammert ihre Weissagungen und wird eingemauert – zu unerträglichem Lärm, der die Ohren zerfetzt, in Bildern, die jeglichem Sinn für Ästhetik Hohn sprechen und die doch eindrucksvolle Metaphern für die Schwere und Unausweichlichkeit des Tantalidenfluchs sind. Der Chor, also das Repräsentationsorgan des Volkes, wird angeführt von einem Kaninchen, das sich später in den Erzähler der Geschichte aus „Alice im Wunderland“ verwandelt – mit Iphigenie, die ja mit Götterhilfe und Magie im Wunderland auf Tauris landen wird, als Alice. Auch auf das Kaninchen wird später brutal eingeschlagen in dieser Diktatur des Schreckens – das Volk hat nichts zu sagen in der mykenischen Polis.
Nach der Pause wird die Aufführung heller, die Musik leiser und weniger provozierend. Orest und Pylades treten auf, Orest ein Ladyboy mit Penis und Brüsten. Sobald es Erschütterungen gibt, bröckelt der Putz im faulen Staate Mykenae – Ruhrtriennale-Besucher denken an Castelluccis Sacre de Printemps aus Knochenstaub. Der Regisseur nutzt die Gelegenheit, eine weitere seiner Spezialitäten vorzuführen: echte Tiere auf der Bühne. Ein Esel kommt, Später werden echte Affen auf einer gläsernen Galerie die Erynnien darstellen. Elektra scheint irgendwie durchgeknallt vor Kummer: Sie gibt einem toten Ziegenbock Milch und nennt ihn Papa. Orest versucht das Vieh wiederzubeleben; vielleicht stellt es aber auch so etwas wie einen afrikanischen Fetisch dar – der Interpretationen sind keine Grenzen gesetzt. Die Morde schreiten voran, ganz ruhig und feierlich; Pythia deklamiert ihre grauenvolle Vorhersage, und Apollo spricht Orest vom Tantalidenfluch frei.
Castellucci hilft dem Zuschauer weder bei der Interpretation noch bei der Orientierung. Er schüttet ihn einfach zu mit seinen Assoziationen, seinen enigmatischen Bildern aus der Malerei und der Literatur, aus der Geschichte, der Philosophie und der Metaphysik. Damit bleiben wir allein. Und buhen oder jubeln, sind begeistert oder erschlagen – aber in jedem Fall beeindruckt.