Reise nach Tenebrien
„Tenebrien ist das Land, in das alle gehen, die nicht für diese Welt gemacht sind, diejenigen, die zu viel wünschen“, denn „Tenebrien ist das Land, wo alles einfach ist“. Und in dieses Land der Sehnsucht und Träume wird die sechzehnjährige Lucinda (Manuela Neudegger) am Ende aufbrechen. Sie wird ganz einfach verschwinden. „Sie ist ganz einfach gegangen. Wie ein Stern, der auf dem Höhepunkt seines Lichts vom Himmel fällt und verglüht. Einfach so“, beschreibt Malina (Julia Hoffstaedter), die jüngere Schwester, das Verschwinden der großen, vergötterten Schwester. Doch bevor Lucinda ganz real unter dem dicken Wollteppich auf der Bühne verschwindet, begleiten wir sie siebzig Minuten lang durch ihren Alltag, ihre Phantasien und ihr in Magersucht langsam dahinschwindendes junges Leben.
„Es hat doch eh keinen Sinn – alles!“ ist von Anfang an ihre Einschätzung der Wirklichkeit. Doch da gibt es neben den „dunklen Tagen“ auch „helle Tage“, an denen die beiden Schwestern tanzen, singen und unter dem Sternenhimmel auf Sternschnuppen warten, um sich in das Land ihrer Träume zu wünschen oder von ihrer „glücklichen Kindheit“ zu schwärmen. Und während Lucinda auf ihrer radikalen Sinnsuche grell geschminkt mit mal roter, mal weißblonder Perücke und verrückten Klamotten, die auf der Bühne am Kleiderständer bereithängen, die unterschiedlichen Rollen ausprobiert und durchspielt, erfahren wir von Malinda – aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird - wie kompliziert die Beziehungen der großen Schwester zu ihrem Umfeld sind, wie wenig die anderen bereit sind, ihre erbarmungslosen Regeln, hochsensiblen Reaktionen und kompromisslosen Ansprüche zu akzeptieren.
Grandios vorgeführt von den beiden tollen Schauspielerinnen wird auf der Bühne vor dem riesigen blauen Kühlschrank auch der verzweifelte Versuch der Mutter (ebenfalls Julia Hoffstaedter), sich der abdriftenden Tochter zu nähern und sie zum Essen zu überreden, zu überlisten oder zu zwingen. Denn Lucinda, besessen von ihrem Lebenshunger, hält sich die Ansprüche einer sinnentleerten Umwelt durch Nahrungsverweigerung vom Leib. Blitzschnell wechselt Julia Hoffstaedter von der braven, verständnis- und bewunderungsvollen Schwester in die Rolle der unsensiblen, hilflosen Mutter. Mal hängt die Haartolle im Gesicht (Malina), mal ist sie streng unter dem Haarband (Mutter): so einfach und doch wunderbar überzeugend.
Natürlich wird auch noch von einem Psychologen, Dr. Zimmermann, berichtet, der klischeehaft hilf- und erfolglos zur Welt der Unverständigen, Normalen gehört.
Und da liegt die Schwäche des Stücks: Gut und Böse, Sensibel und Unsensibel sind von Anfang an klar unterscheidbar und unverrückbar besetzt und somit Sympathie- und Antipathieträger eindeutig definiert. Die Handlung läuft absolut voraussehbar ab und führt zum bitterkalten Ende. Diese Eindeutigkeit ist in der Bühnenadaption noch krasser als im Roman. So wird im Stück nicht deutlich, dass Lucinda mit ihrer Rigorosität den von ihr abhängigen Nachbarjungen Jarvis in den Suizid treibt. Die Schuldfrage berührt das Stück nicht.
„Lucinda ist so ein Mädchen, nach dem sich die Menschen auf der Straße umdrehen,… weil man spürt, dass etwas mit ihr passieren wird.“ Was passieren wird, ist alternativlos: nehmen wir die Magersucht als Metapher, so bietet das Stück dem jugendlichen Selbstoptimierungswahn als Erlösung nur das imaginierte Tenebrien.
Da bleiben viele Fragen offen, die auch die Vierzehnjährigen schon stellen werden.