Venedig sinkt, und Haupt und Herz werden trunken
Dem Cineasten haben sich für Thomas Manns Novelle aus dem Jahre 1911 unauslöschliche Bilder und Assoziationen eingebrannt. Der Tod in Venedig – das ist Dirk Bogarde, das ist der blonde Björn Andresen am Strand, das ist Gustav Mahler und das sind weiße Lilien. Wiewohl ihr manche Kritiker einen allzu ausgeprägten Manierismus vorwerfen, erschwert die Erinnerung an Luchino Viscontis opulente, in ihrer morbiden Schönheit überwältigende Verfilmung aus dem Jahre 1971 jede unvoreingenommene Rezeption späterer Film- oder Theaterfassungen. Hans Dreher ist es jetzt an der Bochumer Rottstraße 5 gelungen, sein Publikum mit einer ganz eigenständigen Theaterversion zu verzaubern.
Für das Schauspiel sind in dieser Inszenierung allein Maximilian Strestik, der den Schriftsteller Gustav von Aschenbach spielt, sowie der Theatermusiker Christoph Iacono in sämtlichen Nebenrollen zuständig. Doch neben den Schauspielern gibt es mindestens drei weitere Hauptakteure in dieser Inszenierung, die auf kongeniale Weise zusammenspielen. Da ist zum einen die Textfassung von Theaterleiter und Regisseur Hans Dreher: Ihre Ingredienzen stammen zu 100 Prozent von Thomas Mann, und doch blieb kaum ein Satz ungekürzt, und fast jeder Abschnitt wurde neu montiert. Dreher hat Manns verschachtelte Bandwurmsätze und komplexe sprachliche Konstruktionen entwirrt und dadurch leichter zugänglich gemacht, aber die wunderbar elegante und elegische Sprachmelodie beibehalten. Einige verstiegene Beschreibungen banaler Alltagsvorgänge haben sich Dreher und Strestik dennoch gegönnt – ganz ernsthaft werden sie gesprochen, doch an der Art, wie sie ausgestellt werden, erahnt man ein minimal ironisches, aber maximal liebevolles Schmunzeln. – Da ist zum zweiten die Musik: nicht Mahler, sondern ein Soundtrack, für den ebenfalls Christoph Iacono verantwortlich zeichnet und der von harmonischer Pianomusik bis zu gelegentlichen schmerzhaften Dissonanzen reicht. – Und da ist zum Dritten die Lichtregie, besser: die Licht- und Nebelregie von Simon Krämer. Selten hat man das Theaterlicht so bewusst als einen eigenständigen Akteur einer Aufführung wahrgenommen. Das Zusammenspiel dieser vier Komponenten – Schauspiel, Musik, Textfassung und Licht – entwickelt von Beginn an sogartige Kraft.
Mit großen Bühnenbildern kann die kleine Rottstraßen-Höhle unter dem Bahndamm nicht aufwarten, und auch im Hinblick auf Requisiten beschränkt sich das Theater. Und doch lassen Strestik und Iacono geradezu plastische Bilder vor unserem geistigen Auge entstehen. Bei der Ankunft in Venedig stößt Aschenbach auf einen Jüngling mit uralten Gesichtszügen, einen geheimnisvollen Vertreter eines unheilvollen Karnevals. Er fährt mit einer Gondel, schwarz und lang wie ein Sarg, die von einem undurchschaubaren, dämonischen Gondoliere gesteuert wird – und obwohl das alles vorwiegend nur erzählt wird, können wir die Beklommenheit des Protagonisten physisch spüren; wir riechen, schmecken, fühlen die faulige Morbidität einer dekadenten Stadt vor dem Untergang. Iacono zieht eine altmodische Wasserwanne wie aus Omas Waschküche quer durch den Raum, und die schmerzhaften, kreischenden Dissonanzen, die das schwere Blech auf dem steinernen Boden des Bühnenraums verursacht, lassen uns das Feindliche der Totenstadt empfinden, zu der Venedig im Verlaufe des Abends mehr und mehr werden wird. Durch den Lärm fühlen wir uns ebenso körperlich bedrängt wie Aschenbach durch die zudringlichen Schiffer und Passanten.
Iacono ist aber nicht nur für Lärm, sondern auch für süße Lieder zuständig. In jeder Sekunde der Aufführung hat er den atmosphärisch passenden Soundtrack parat, und der ist meist kompatibel mit Manns Novelle: harmonisch und elegisch, allerdings ohne den gelegentlichen Mann’schen Schwulst. „Zwei Stunden Todeswonne“ verschaffe Viscontis Film, schrieb im Jahre 1971 die ZEIT in ihrer Film-Rezension. Drehers Inszenierung dauert nur kurze 85 Minuten, doch auch hier befällt den Zuschauer schnell das das große Sehnen nach dem Morbiden, „Haupt und Herz werden ihm trunken“, wie es in der Novelle und in der Bochumer Aufführung von Gustav von Aschenbach heißt, als er von der Cholera erfährt, die die Stadt heimsucht. Großartig verkörpern Musiker und Schauspieler die Zerrissenheit Aschenbachs, der einerseits die Familie des geliebten 14jährigen Tadzios warnen und anderseits sich die Chance auf eine (unziemliche!) Kotaktaufnahme mit dem Jungen erhalten möchte. Auf phantastische Weise bricht sich Aschenbachs Sehnen in einem mit Iacono gemeinsam gesungenen Song von David Bowie Bahn. Sehnsuchtsvoll, drängend, verzweifelt klingt das: „I know it’s gonna happen someday“.
Die Inszenierung findet wunderbare Zeichen für Aschenbachs Seelenzustände: Beim ersten Anblick des 14jährigen Tadzio fällt warmes Spotlight auf die Statur von Aschenbach, Iacono zaubert zarte Piano-Harmonien aus seinem Mischpult, und Maximilian Strestiks bis dato eher strenge und unnahbare Gesichtszüge werden weich. Die Vertuschung der Epidemie, von der die Stadt befallen wird, zeigt sich sinnbildlich in den Zeitungen, die Aschenbach zur Verfügung stehen: Diese haben chinesische Schriftbilder. Aufklärung über den wahren lebensbedrohlichen Sachverhalt erhält Aschenbach von dem „Clerk“ eines englischen Reisebüros: Während dieser die Herkunft der Pest und die Gründe für ihre Vertuschung erklärt, wickelt er ein dickes Knäuel roter Wolle ab. Er sperrt damit den Bühnenraum vom Zuschauerraum ab und spinnt die Fäden kreuz und quer über die Bühne. Ordnung und Chaos, Klaustrophobie und Verstrickung, das Gefangensein in einem Kokon – all das steckt in diesem einen, so einfachen wie genialen Bild.
Aber anders als Thomas Mann in seiner Novelle oder Luchino Visconti in seinem Film fügt Hans Dreher seinem Werk eine Prise Humor hinzu. In einem Bild von skurriler Schönheit steht Iacono als stolzer Gondoliere auf dem Tisch und paddelt mit dem langen Ruder in der Blechwanne, die ihm die Lagune sein muss. Eine schauspielerische Glanzleistung und eine Szene voller intelligentem Witz ist es, als Strestik vergeblich seine Freude darüber verhehlen zu versucht, einen Grund für die Absage seine Abreise aus Venedig gefunden zu haben. Zu einer großartigen Karikatur gerät die Szene vom Verjüngungsversuch Aschenbachs beim Kosmetiker. Dieser Aschenbach rülpst im Schlaf, als Iacono in einem poetischen und suggestiven Text dessen Alptraum resümiert. Und da das Rülpsen so perfekt in die Poesie eingepasst ist, realisieren wir plötzlich, was dieser Abend auch ist: ein großartiges Wortkonzert nämlich.
Am Ende ist es wie es sich gehört in einer Literatur-Inszenierung, die Hochachtung vor dem Text hat. Originalgetreu winkt Aschenbach dem fernen verbotenen Geliebten ein einziges Mal zu – und stirbt. Man seufzt. Und träumt von Thomas Mann, von Luchino Visconti und von diesem wunderbaren Venedig-Gedicht von Konstantin Wecker, das all die Toten besingt, die diese Stadt ins Meer gespien hat: „Die steigen noch ein letztes Mal ins Leben / und feiern Feste, und mit festem Tritt / und dunklen Rufen lassen sie die Erde beben. / Es ist soweit: Venedig sinkt, und du sinkst mit.“ - Lang anhaltender Jubel.
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