Düsseldorf Sous-Terrain im Düsseldorf

Eine Reise nach Utopia schockt mit der harten Realität

„Wir zeigen Ihnen heute, wovon Sie morgen erst träumen!“ lockt das Motto dieser Theaterperformance und mahnt zugleich festes Schuhwerk an.

Man trifft sich vor dem NRW-Forum - ein mit seinen archaisch-monumentalen Formen und seiner für den Expressionismus charakteristischen Klinkerfassade bemerkenswertes Architektur-Monument des beginnenden 19. Jahrhunderts - um aufzubrechen zu einer Reise in ein „innerstädtisches Areal der Zukunft“, das „Mekka der unbegrenzten Möglichkeiten“, um das Utopia der Stadt zu entwerfen für Räume, wo vorerst noch Brachen und „Niemandsländer“ sind.

Bei einem Check-In durch fröhlich-aufgekratzte junge Leute erhalten wir einen Aufkleber mit weißer Schwalbe auf gelbem Grund verpasst und eine knallgelbe Wolldecke unter den Arm geklemmt. Dann geht’s ins Innere des Forums. In dem imposanten Rondell stellt sich die Führungs-Mannschaft vor: vier Damen in sexy knallgelben Schlauchkleidern mit Silbertäschchen und –schuhen (Anna Beetz, Julia Dillmann, Xolani Mdluli, Nora Pfahl) präsentieren sich gutgelaunt als Vertreterinnen der „international renommierten Agentur für öffentliche Raumgestaltung und urbane Utopien „Schöner leben“. Sie skizzieren kurz ihren visionären Entwurf für das städtische „Areal der Zukunft“, den sie schick-frankophil mit „Avaler“ betiteln. Und damit wir die ganz neue Perspektive dieses fiktiven Unterfangens auch sinnlich erfahren, müssen wir alle unsere gelben Decken ausrollen, uns darauf legen und in einem Video an der Decke zwei Stock über uns die bebilderten Zukunftsvisionen für Düsseldorf betrachten.

Danach beginnt die Tour im unklimatisierten, bis auf den letzten Platz besetzten Bus bei gefühlten vierzig Grad Sommerhitze in Richtung Nord-City. Das Publikum wird bestens unterhalten von den gelben Damen und einem Herrn in gleichfalls knallgelbem Outfit (Jonathan Schimmer), die alle nicht müde werden, uns ihre Idee vom „urban village“, der neuen Stadt in der alten, als architektonisch-ästhetisch-humanes Kunst-Gebilde vorzugaukeln. Dabei gibt es Haltestationen mit thematischen Performances, so etwa zur „Modestadt“, Thema: „Des Kaisers neue Kleider!“ oder zur Beauty-City: „Sie betreten das Institut als Rohdiamant und kommen als Perle heraus!“ Hoppla! Beim Tanz der Mütter fliegen leere Kinderwagen durch die Luft. Als Erfrischung wird uns eine mit Strohhalm angebohrte Zitrone gereicht: wenn man ganz fest saugt, kann man ein, zwei Tropfen schlürfen. Die Satire nimmt groteske Züge an, als vor einem futuristisch anmutenden Neubaukomplex ein ganz realer Wachmann auf der sonst menschenleeren Straße auftaucht. Hat hier die Zukunft schon begonnen?

Plötzlich endet der Asphalt: zu Fuß geht‘s weiter an einem haushoch gemauerten Bahndamm entlang über Schotter und stillgelegte Gleise, rechts und links wuchern Gräser und Sträucher, Fuchsschwänze blühen in strahlendem Lila, dazwischen leuchten groteske Wandmalereien. Für wen ist sie geschaffen, diese imposante Galerie? Wer kommt hier vorbei?

Dann wird es immer dunkler, wir tauchen ein in das Dämmerlicht eines Tunnels. Es wird kalt und zugig, ich achte nur noch auf den Weg, bis jemand mit einem Scheinwerfer kommt und die Wände anstrahlt: auch hier im Finstern glotzen uns Ungetüme von den meterhohen Mauern an. Faszinierend und bedrängend zugleich. Erst jetzt wird mir bewusst, dass uns irritierende Klänge begleiten, die die Atmosphäre noch stärker verfremden.

Wir kehren um, plötzlich leuchten mehrere Strahler auf und in einem Mauerdurchbruch zum Nachbargleis bewegt sich etwas, Kisten werden erkennbar, und dann - Überraschung und Erschrecken zugleich: da sitzt ein Mann! Nur ganz kurz frage ich mich, ob das wieder eine Performance sein könnte. Alles spricht dagegen. Dieser Mensch hat sich hier eingerichtet. Er spricht uns an, stellt sich vor: Jörg ist sein Name, sein erlernter Beruf: Altenpfleger. Er beantwortet unsere Fragen nach seinem Alltag hier unten und nach seiner Geschichte. Dann steht er auf, fordert uns auf, ihm zu folgen und übernimmt die Führung aus dem Tunnel zum Bus und steigt mit uns ein. Keiner der Performer ist mehr bei uns. Jörg steht mitten im Bus und berichtet von seinem Leben als Clochard. Er nennt sich „Penner“. Er steigt aus, um einiges in der Stadt zu erledigen. Wir bleiben eine Weile sitzen.

Beklommenheit und Nachdenklichkeit haben uns erfasst. Die Realität hat uns mit Wucht eingeholt: was als Performance, kunstvolle Verfremdung und Satire begann und amüsierte, ist uns in der Brache eines scheinbar unbewohnten Ortes als realer Alltag eines Menschen mit Namen und Geschichte begegnet.

Schließlich meldet sich der Busfahrer: er verabschiedet sich von denen, die am Forum aussteigen wollen, mit den übrigen fährt er zum Festivalort weit außerhalb der City, dort warten Bier und „die leckersten Currywürste der Stadt“ – natürlich auch Vegetarisches - auf die Besucher und zur gegebenen Zeit dann die „Finalgötterfunken“, eine sensationelle Performance zu Fußball und Kunst, zu Kultur und Sport bis weit in die EM-Endspiel-Nacht hinein.

Dieser Tag ist symptomatisch für dieses Festival in seiner einmaligen Lebendigkeit und Spontaneität, in seiner Authentizität und künstlerischen Vielfalt, in seiner mutigen Verbindung von etabliertem Kunstgeschehen und gelungenen, originellen Eigenproduktionen.

Dabei sind die so überzeugend kreativen Festivalmacher (Christof Seeger-Zurmühlen und Bojan Vuletic) ständig präsent und - neben ihrer künstlerischen Arbeit - im gutgelaunten Einsatz: sei es beim Möbelrücken, Kartenabreißen oder im freundschaftlichen Gespräch mit jedem, dem danach ist.