Vom Zynismus der Macht
Als der Schlussapplaus rhythmisch wurde, stimmte einer der Zuschauer ein „Hu“ an. Ein wenig zaghaft, aber doch vernehmlich entwickelte sich, was wir in den vergangenen Wochen in den Fußballstadien von Frankreich lieben gelernt hatten: „Hu Hu Hu Hu Hu Hu HuHuHu“ – der Applaus für die Sensationsmannschaft von Island, die den Engländern zeigte, wie ein schneller Brexit geht. Außenseiter waren in Frankreich zu den Stars der EM geworden. In Düsseldorf spielten Stars auf einer Bühne für Außenseiter: in den Kammerspielen des FFT. In ihrem kraftvollen Auftritt waren Schauspieler und Fußballer vergleichbar.
Stephan Kaluza, der Autor, Regisseur und Bühnenbildner dieses beeindruckenden Abends, sowie seine hochkarätigen Schauspieler bringen zwei scheinbar unabhängige, doch elegant miteinander verzahnte Einakter auf die Bühne. Beide Stücke haben etwas mit Macht zu tun, mit einem gnadenlosen Missbrauch des Schwächeren: Im ersten geht es vorwiegend (aber nicht nur) um den Missbrauch eines ganzen Volkes, im zweiten um Psychoterror und Abhängigkeiten in einer Liebesbeziehung. Auf der Folie historischer Geschehnisse erleben wir, wie die Veranstalter es ausdrücken, eine „Autopsie über die gefährliche Gratwanderung zwischen Lust und Gewalt.“
Blutmänner führt uns in die Regenwälder Brasiliens. An der Grenze zu Venezuela leben die Mitglieder des Indianerstammes der Yanomami, des größten, weitgehend isoliert lebenden indigenen Volkes Lateinamerikas, das erstmals im Jahre 1940 in Kontakt mit der Außenwelt kam. In den 1970er Jahren führten US-amerikanische Anthropologen medizinische Experimente mit den Yanomami durch und infizierten sie – ob fahrlässig oder vorsätzlich, bleibt in Kaluzas Stück offen - mit Influenza. Jedem Infizierten, so wirft es der Anthropologe Chapell in Kaluzas Stück seinem Gegenspieler vor, wurde vor der Infusion eines Gegenmittels eine Blutprobe entnommen – reines, von keinen zivilisatorischen Entwicklungen beeinflusstes „genetisches Urblut“, das von hohem wissenschaftlichem Wert war. Das gegen die Krankheit und gegen die in den Spritzen enthaltenen Wirkstoffe nicht resistente Volk wurde nahezu ausgerottet.
In der Mythologie der Yanomami ist die Schaffung der ersten Männer das Resultat einer grausamen Folge von Mord, Totschlag und Vergewaltigungen bei den noch nicht Mensch gewordenen Urwesen. Das Blut des Mondgeistes benetzte diese ersten „Blutmänner“ und führte zur Entstehung der heutigen menschlichen Rasse. Reines und vergiftetes Blut, Mord, Totschlag und Vergewaltigungen – das sind auch die Ingredienzen der jüngeren Geschichte der Yanomami, in der sie dem Forscherdrang und den Lüsten der Ethnologen zum Opfer gefallen sind. Kaluza stellt in seinem Stück vor dem Hintergrund realer Ereignisse zwei fiktive rivalisierende Forscher-Typen vor, die in der wissenschaftlichen Welt in Ungnade gefallen sind. Einig wissen sie sich in der Überzeugung, dass für die Erforschung der Lebensweise des Volkes eine möglichst vollständige Assimilation erforderlich sei. Über Jahrzehnte haben sie mit den Indigenen zusammengelebt. Moritz Führmann spielt den Chapell, den weicheren, idealistisch wirkenden jüngeren Mann, einen Einzelkämpfer und „Hippie-Typen“, wie ihn sein Gegenspieler voller Verachtung bezeichnet. Pierre Siegenthaler gibt den Bosner – zynisch, arrogant, erfolgsorientiert und geltungssüchtig. Er hat mit einem Team von circa 20 Personen im Regenwald gearbeitet und ist ein Hetzer, wie Chapell meint. Chapell träumt vom Ideal des reinen Wilden, für Bosner sind die Eingeborenen Mörder und Kriegstreiber. Es waren Pharmazeuten aus Bosners Team, die die Indigenen zu medizinischen Forschungszwecken missbrauchten und so einen Genozid auslösten. Oder retteten sie viele Indigene, nachdem die sich durch den Kontakt mit einem der Ärzte tatsächlich angesteckt hatten und eine Epidemie ausbrach? Vieles bleibt bei Kaluza bewusst offen.
Bosner kommt in seiner Analyse schnell zum Punkt: Die Grenzen zwischen Missbrauch und Assimilation seien fließend, stellt er fest. Und so verteidigt er den „großartigen“ Forscher Leblanc, der während seiner Tätigkeit im Urwald Hunderte von indigenen Jungen zwischen sechs und zehn Jahren missbraucht hat. Chapell, der Leblancs Verhalten angreift und den Zusammenhang zwischen Missbrauch und Assimilation verneint, gerät in eine argumentative Falle, als sich herausstellt, dass er eine Elfjährige geheiratet hat. Die Konventionen unserer aufgeklärten Welt könne man nicht auf das Leben mit den Völkern im Urwald übertragen, verteidigt er sich – Forschung kenne keine Grenzen. Mancher Reformpädagoge und grüne Hippie-Träumer hat vor wenigen Jahren in Deutschland in Bezug auf den sexuellen Missbrauch Minderjähriger noch ähnlich gedacht …
Der Dramatiker schneidet in Blutmänner zwei Monologe zu einer konfliktären Auseinandersetzung ineinander, die zu Beginn von Bianca Künzel als der Dokumentarfilmerin Aneau erläutert und moderiert wird. Aneau hat einen Film über das Schicksal der Yanomami gedreht und die Reflexion über die Rolle der ethnologischen Forschung beim Untergang des Volkes erst ins Rollen gebracht. Jetzt engagiert sie sich in Tourismus-Projekten – Reisen in die Wildnis, „ohne Saurier, dafür mit echten Wilden“, wie es zynisch heißt. Zu einer kalten, rein ethnozentrisch denkenden Karrierezicke mutiert, weigert sie sich zu erkennen, dass ihr Projekt nur die Fortsetzung der Ausbeutung und des Missbrauchs des unterlegenen Volks durch diejenigen, die die Macht haben, bedeutet.
Elegant und ohne harten Schnitt geht Kaluzas Inszenierung in die „Studie einer menschlichen Figur im Raum“ über, die ein reales Künstlerdrama thematisiert. Am Vorabend einer großen Ausstellung im Pariser Grand Palais wird der Liebhaber des Malers Francis Bacon, George Dyer, Selbstmord begehen – für Bacon ein furchtbares Déjà-vu, denn einige Jahre zuvor hatte Peter Lacy, ebenfalls Liebhaber von Francis Bacon, am Vorabend der für den Maler wichtigen Vernissage in der Tate Gallery in London ebenfalls Selbstmord begangen. Der Suizid Dyers wirkt wie die konsequent inszenierte Rache des Underdogs in der unglücklichen Liebesbeziehung für die grausamen Erniedrigungen, die ihm der Maler zuvor zugefügt hat. Wir erleben ein Psychodrama, das in seiner Härte den konventionelleren Vorbildern wie Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? in nichts nachsteht. Pierre Siegenthalers egomaner, brutal und mit einer sadistischen Ader seine Macht ausspielender Bacon erniedrigt und quält den verzweifelten drogensüchtigen Ex-Kriminellen Dyer; Moritz Führmann als Dyer wiederum windet sich, scheint bereit zur völligen Unterwerfung und schlägt dann aus aussichtsloser Position erbarmungslos zurück. Es ist ein zerstörerischer Vernichtungskampf zweier krankhafter Liebender, ein quälerisches, auch selbstquälerisches Spiel der Liebe – doch letztlich geht es vor allem um die Durchsetzung von Macht- und Besitzansprüchen. Wobei die Macht in diesem Spiel einseitig verteilt scheint - bis, ja bis dass am Ende der Unterlegene die finale Option zieht...
Ob man das kalte, sezierende Wissenschafts-Drama mit seinen existenziellen persönlichen Komponenten oder die heißblütige psychologische Liebesgeschichte mit ihren Seitenhieben auf die Kunstwelt bevorzugt, ist Ansichtssache. Siegenthaler und Führmann verhelfen beiden Texten zu großer Durchschlagskraft und ungeheurer Intensität. Siegenthaler spielt suggestiv, aber auch in höchstem Maße manipulativ; Führmann macht die Angst vor den Alpha-Tieren Bosner und Bacon geradezu mit Händen greifbar. Beide stellen jeweils zwei ungewöhnliche, vollkommen unangepasste Charaktere dar, aber sie wirken in herausragendem Maße authentisch. Ihre Konflikte gehen unter die Haut. Moritz Führmann, soeben zum zweiten Mal vom Publikum des Düsseldorfer Schauspielhauses mit dem „Gustaf“ für den besten Schauspieler ausgezeichnet, spielt variabler und mit größeren Überraschungsmomenten als in jeder seiner Rollen in der abgelaufenen Spielzeit an seinem angestammten Haus.
Der Rezensent tendiert zum ersten, aus der Vogelperspektive auf den Machtmissbrauch schauenden und daher exemplarischeren Stück. Aber in der „Studie einer menschlichen Figur im Raum“ wird mehr gespielt – und mehr inszeniert. Die Schauspieler winden sich um sich selbst und umeinander wie die entstellten Figuren auf Bacons Gemälden. Als Filmfigur taucht Führmanns George am Ende in einem ornamentalen Bilderrahmen auf, vergoldet und nicht zu einem Ur-, sondern zu einem Post-Wesen stilisiert. Der echte Führmann geht um sein Abbild herum und schneidet der Filmfigur von hinten die Kehle durch. Ungerührt. Denn noch der Selbstmord ist die Demonstration von Macht. – Großer Jubel. Hu Hu Hu Hu HuHuHu.