Sechs Autoren suchen etwas Dramatik
Macbeth does murder sleep? Kann man so nicht sagen: Das fringe ensemble Bonn hat ein multinationales Projekt aufgesetzt, in dem sechs verschiedene Autoren aus sechs europäischen Ländern einen Text zur Lage der Nation schreiben sollten, in dem mindestens ein Zitat aus Macbeth vorkommt. Das Projekt ist so verkopft, so überambitioniert und – leider muss man es so sagen – so verquast geraten, dass den Zuschauer in seinem Theatersessel tiefer Schlaf zu übermannen droht. Dabei ist Einschlafen das Letzte, das einem passieren darf, wenn man dem Abend folgen will: Wer nicht höchst konzentriert zuhört, hat den Anschluss in Nullkommanix verpasst.
Exakt vor fünf Jahren hatte ein ähnliches Projekt des fringe ensembles seine Uraufführung erlebt. In Finnland hatten vier Autoren aus unterschiedlichen Ländern eine erschütternde (und real existierende) Familiengeschichte erzählt – in Fragmenten und mit unterschiedlichen Theaterstilen und -ästhetiken, aber am Ende fügte sich alles zu einer entsetzlichen, in sich geschlossenen Geschichte. Fünf Jahre später hat die postdramatische Schreiberkunst in der Freien Szene das Kommando übernommen, und dialogisches Theater findet dort kaum noch statt. So kann man hinreißende Experimente erleben, aber leider zeigt sich mancher Schreiberling den höheren Anforderungen der Postdramatik nicht gewachsen. Er konzentriert sich ausschließlich auf die Post (also die Botschaft) und vernachlässigt die Dramatik. Und damit die Unterhaltung. So schmerzhaft wie beim jüngsten Projekt des fringe ensembles, in dem wir Texte von Autoren aus Russland, Lettland, der Türkei, Kroatien, Deutschland und Frankreich zu Gehör bekommen, haben wir das selten erlebt.
Denn die sechs Autoren kleiden ihre Post zu allem Überfluss in vermeintlich kunstvoll gewebte Metaphern, verfremdende Bilder und verstiegene Formulierungen. Einige Texte wären zwar anstrengend, aber interessant zu lesen – theatertauglich sind sie nicht, zumal Frank Heuel sie wenig inspirierend inszeniert hat. Nur einer einzigen Autorin gelingt es, auch das Unterhaltungsbedürfnis des Zuschauers zu bedienen. Der Regisseur und Projektleiter hatte den sechs Autoren nur wenige Vorgaben gemacht: Erstens: Die Zeit ist jetzt. Zweitens: Der Ort ist das eigene Land. Drittens: Es muss ein Zitat aus Shakespeares Macbeth vorkommen. Die Hoffnung, dass sich aus den eingereichten Fragmenten eine Bestandsaufnahme der akuten gesellschaftlichen Verhältnisse und ein Mosaik der europäischen Krisen und Befindlichkeiten ergebe, erfüllte sich nur näherungsweise. Zu verschieden sind wohl auch die politischen Bedingungen in den Heimatstaaten der sechs Autoren. Wahre Macbeths herrschen eigentlich nur in der Türkei und in Russland; Polen und Ungarn, in denen die Staatschefs die Werte der Demokratie nicht minder mit Füßen treten, bleiben ausgeklammert. So tritt bei einigen der Autoren das Thema der Flüchtlingskrise in den Vordergrund, doch im Großen und Ganzen bleibt alles fragmentarisch.
Frank Heuel versucht, die Bindung durch eine teilweise Verschränkung der einzelnen Texte herzustellen, und trägt damit nicht unwesentlich zur Verwirrung des Zuschauers bei. Nicht ohne Logik ist allerdings die Verzahnung der Beiträge des Russen Alexander Molchanov und des Letten Ivo Briedis, die auf unterschiedliche Weise die Bedrohung und eine (von oben gelenkte?) Identitätsverwirrung thematisieren. Plakativ werden der Überwachungsstaat, die mangelnde Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Homophobie angesprochen. Dem Publikum in der ersten Reihe wird der Mund mit Klebeband verschlossen; einem Schauspieler fließen die Texte asynchron über Lautsprecher ins Hirn, als wäre eigenes Denken verboten: „Der Selbstherrliche“ hat den Befehl gegeben; der Partner des Mannes „hat den Befehl verweigert. Das sieht man in unserem Land nicht gern“, heißt es, und natürlich setzt der Zuschauer Macbeth mit Putin gleich. Doch: „Das sieht man nirgendwo gern“, relativiert der Text - nachdenklich wird man spätestens bei der Frage, inwieweit das Streben eines Volkes nach Wohlstand den Verzicht auf die demokratischen europäischen Werte rechtfertigt. - Ivo Briedis verwirrt durch die Einführung einer zusätzlichen Ebene: die Reflexion des Schauspielers über seine Rolle und die des Regisseurs, der ein Ebenbild egomaner Staatenlenker ist, vor dem der Schauspieler Angst hat. In der lettischen Gesellschaft, sagt Briedis, gebe es einen Mangel an Selbstbewusstsein, und es fehle an einem gemeinsamen ideologischen Ziel mit Ausnahme des eigenen Überlebens. Das sei eine schwierige Situation für einen Künstler. Wenn man will, kann man diese Aussagen in den Monolog von Briedis hineinlesen.
Die Türkin Ceren Ercan lässt Banquos fliehenden Sohn Fleance auf Idris (im Koran ein geduldiger und wahrhaftiger Prophet Gottes) treffen. Bei Ercan wird Idris zum kurdischen Flüchtling, der von Fleance ermordet wird. Eine merkwürdige Mischung aus grotesker, manchmal rätselhaft erscheinender postkommunistischer Polit-Lyrik, aus Revolutionsaufruf und Agitprop präsentiert Goran Fer?ec in seinem Text „Jedes blaue Arbeiterhemd ist eine Welle, die gegen die Wand des Kapitalismus schlägt“, in dem der Autor „die Angst des Kapitalisten vor dem Ertrinken“ herbeiphantasiert. Beim Lesen entfaltet dieser Text möglicherweise die größte Wucht und Kraft unter den fünf verstiegenen Konstrukten. Lothar Kittstein aus Deutschland folgt noch mit „Mohamed aus Luckenwalde“ - einem Text über Plastiktüten und Spenden, über die arrogant erscheinende, manchmal gar einschüchternde Art der Kommunikation scheinbar gutwilliger und hilfsbereiter Menschen gegenüber Migranten und Flüchtlingen, über Fremde und Fremdheit im eigenen Land. Und dann… erwartet uns der sechste Text, der so völlig aus dem Rahmen des Vorherigen fällt.
Marie Nimier aus Frankreich hat einfach nur „350 Fragen“ gestellt, und das fringe ensemble hat für diese 350 Fragen eine grandiose Schauspielerin gefunden. Temporeich feuert Nicole Kersten ihren Fragenkatalog auf das Publikum ab, und die Themen, die sie dabei anspricht, haben eine unfassbare Fallhöhe: Sie reichen von der Glaubenskrise über die wirtschaftliche und politische Situation Frankreichs und Europas bis hin zu intimen Fragen des Sexuallebens, von alltäglichen Problemstellungen („Hätte ich meinen Regenschirm mitnehmen sollen?“) bis zu philosophischen Gedanken und Reflexionen über die Gültigkeit moralischer Prinzipien. Der Text besticht durch einen tollen Rhythmus, grandiose und überraschende Reime (besondere Anerkennung für die Übersetzerin Lisa Wegener!), abenteuerliche Assoziationen und Gedankensprünge – und Nicole Kersten kitzelt all das in einer unnachahmlichen Mischung aus hochdeutsch und rheinischem Akzent heraus. Das ist atemberaubend, und das ist witzig – aber es wird uns auch deutlich, wie sehr die Unsicherheit unser Leben diktiert, die German (oder hier besser: French) Angst in den Zeiten eines taumelnden Kontinents. So ratlos und kopfschüttelnd uns Frank Heuels „Theaterprojekt ohne Theater“ zurücklässt, so ratlos und inspiriert entlassen uns Marie Nimier und Nicole Kersten mit ihrer letzten Frage: „Wie steht’s um die Welt?“