Sie robben durch den Schlamm der Welt
Mit grandiosen Schwingungen überwältigt das weiße „Traumschiff“ des Architekten Bernhard Pfau aus dem Jahre 1970 noch immer. In ihm, dem Schauspielhaus am Gustaf-Gründgens-Platz im Herzen Düsseldorfs, wollte, nach einem kurzen Beelitz-Intermezzo, Wilfried Schulz erste Zeichen setzen. Doch der zuvor in Dresden so erfolgreiche Theatermann musste gleich zu Beginn seiner Intendanz kleine Brötchen backen: Der Start im Pfau-Bau steht in den Sternen. Umbauten dauern länger als geplant, und schon steht die Landeshauptstadt in einer Reihe mit den Kölnern: Pläne sind schön, aber wenn sie nicht eingehalten werden, sind nicht nur die Metropolen am Rhein zu einer Art organisatorischen Diaspora abgesunken.
Doch Schulz gab nicht auf. Es gibt sie halt noch, die Trotzköpfe, die politischen Vertretungen und Verwaltungen die künstlerische Stirn bieten. Hätte der Ex-Dresdner die Klamotten gleich zu Beginn hingeschmissen, hätte man auch nicht überrascht sein dürfen. Tat er aber nicht. Zum Glück für die Stadt an der Düssel, wie sich gleich zeigen sollte. Auch ohne swingendes Schauspielhaus.
Stattdessen landete Schulz mit einer der größten Sprechbühnen im deutschsprachigen Raum – im Zelt. Dass diese Arena am Ende der Kö auf Sand gesetzt wurde, ist immerhin ein starkes Zeichen des „Dennoch“. Zudem an einem Ort, der gar nicht mal so fehl am Platze ist für die grandios verlaufene Eröffnungspremiere der Schulz-Ära.
In ihr wurde nämlich das Welt-Epos Gilgamesh Ton und Bild. Fast so alt wie unsere Zivilisation, zudem im heutigen Syrien und dem Irak entstanden und spielend, erzählt es von der brutalen Herrschaft des tyrannischen und erst spät geläuterten König gleichen Namens. Ein Schelm, der angesichts seines grausamen Regimes nicht ans Heute denkt. Doch damals glaubte man noch an Götter. Die hatten ein Einsehen mit den sie anflehenden Untertanen und schufen eine Art Gegenpol. Enkidu hieß er, der den Tyrannen in die Schranken weisen sollte. Ob’s gelang? Die Beiden wurden aus Feinden schließlich zu besten Freunden.
Roger Vontobel, seit kurzem auch Hausregisseur bei Schulz, machte sich an die Bild-Schöpfung des Gilgamesh-Epos, das Raoul Schrott für die Bühne bearbeitet hat. Was sich nun im Sand der Düsseldorfer Arena abspielt, erinnert an Bilder aus der Vorzeit. An eine zerstörte zudem. Auf einem Schlachtfeld, dessen sandiger Untergrund immer wieder sich zu Schlamm verdichet. Wenn die Männer kämpfen, die Bürger ihren Kotau machen, sind sie über und über mit Schlamm beschmiert. Bilder, die dem Dionysischen verwandt sind, wild und ungezügelt.
Sinnlichkeit beherrscht alles, besonders den Herrscher (voll grandioser Körperlichkeit: Christian Erdmann). Er hat alle Frauen der Stadt Uruk vernascht, ihre Männer zu Kriechern degradiert. In der größten Stadt der damaligen Welt, über 5000 Jahre vor unserer Zeit. Dass hier nicht alles zum Besten steht, lässt gleich zu Beginn das Bühnenbild (Claudia Rohner) ahnen. Am Rande des Sand- und Schlammfläche stehen riesige, zum großen Teil ruinöse Buchstaben. URUK bereits zerbröselt.
Die ersten Bilder sind Mahnmale verrinnender Zeit: Uruks Männer lassen, schrittweise zurückweichend, feinsten Sand auf den Arena-Grund rieseln. Eine Sanduhr als Bild für Vergänglichkeit. Gilgameshs Tyrannei, seine unbedingte Herrschaft über das Leben der Männer und ihre Frauen ist in grobe, brutale, ja überwältigend schamlose Bilder versetzt. Vom drei Ellen langen Glied des Herrschers ist die Rede, davon, dass er damit alle Frauen von Uruk beglückte.
Das Volk, vor dem Macho fußleckend in die Knie gehend, bäumt sich schließlich auf – und aus dem Schlamm des Arena-Bodens kriecht, im wahrsten Wortsinn, ein Mann aus dem Untergrund. Es ist der anfangs in zwei Personen gleichzeitig agierende Enkidu (André Kaczmarczyk und Takao Baba), eine Natur-Geburt, maßlos in seiner Sehnsucht nach Leben, bei aller natürlichen Unschuld ohne Moral. Gilgameshs Vertrauter, der Jäger Shangashu (Florian Lange), und die Hure Shamhat (Minna Wündrich) sollen den „Wilden“ zähmen. Der ist denn auch, als er zum ersten Mal eine Frau sieht, hingerissen von einer geradezu tierisch-männlichen Sinnlichkeit.
Gezähmt, wie es scheint, gelangt er nach Uruk und wird zum kraftprotzenden Gegenspieler des Herrschers. Doch bereits während des ersten Kampfes um die Vorherrschaft ringen sie miteinander – und küssen sich. Offenbar hin- und hergerissen von der Kraft und Persönlichkeit des anderen. Es sind Szenen unbeherrschter Wildheit und Zärtlichkeit zugleich. Das Volk, verdreckt vom Schlamm und farbverschmiert, erinnert vielfach immer an den Chor der griechischen Tragödien.
Das Kraft-Duo, dessen Feindschaft sich auch dank des Eingreifens von Gilgameshs Mutter Ninsun (Michaele Steiger) in Freundschaft verwandelt, macht sich schließlich auf die Reise ans Ende der Welt. Dort treibt das Ungeheuer Humbaba (auch Florian Lange) sein Unwesen. Wochenlang sind die Beiden unterwegs, durch nahe und dann ferne wasserlose Wüsten. Dazu schuf Vontobels Regie mitreißend einfache Bilder, begleitet durch den originalen Text des Epos wie direkten Gesprächen der Reisenden.
Schließlich erreichen sie Humbaba in seinem Zedernwald. Gilgamesh besiegt die körperliche Missgeburt, der stirbt – wie nach der Rückkehr in die Stadt Uruk auch Freund Enkidu. Von nun an ist der Tod in Gilgameshs Welt angekommen und verankert. Eine ihm bislang völlig fremde Welt, dessen Bewusstwerden ihn freilich auf die Suche nach dem ewigen Leben führt. Er landet schließlich in einem Garten mit allen Schönheiten der Welt.
Dazu öffnet sich das Zelt hinter der Spielfläche und gibt den Blick frei „auf meine Stadt“, in die der triumphierende halbnackte Gilgamesh hinausgeht.
Schon mit diesem ersten Abend zu Spielzeitbeginn scheint Wilfried Schulz in seiner Stadt angekommen. Riesiger Applaus überschüttete das grandios agierende Ensemble. Regie und Darsteller bedienten alle Sinne – in einer nicht nur körperlich mitreißenden Inszenierung. Die Beatklänge und vorwärts hämmernde Musik Murena Murenas taten das Ihre, den Abend zum Ereignis werden zu lassen.