Viel Sex, der nicht anmacht
Wird Liebe bald nur noch digital sein? Ist die Zukunft des Sex kein Sex? Ist die Zukunft des Sex Impotenz? Ja, sagt der in New York lebende niederländische Schriftsteller, Dramatiker und Kolumnist Arnon Grunberg, der in Essen nicht virtuell, sondern ganz real auf der Bühne steht. Laut einer britischen Studie aus dem Jahr 2014 wird in fast allen wohlhabenden Ländern heute deutlich weniger Geschlechtsverkehr ausgeübt als noch vor wenigen Jahrzehnten. Vermutlich liegt man nicht falsch, wenn man dies als ein Resultat der unbegrenzt zur Verfügung stehenden erotischen und pornografischen Angebote im Internet betrachtet. Die hochgelobte freie Theatergruppe Wunderbaum aus Amsterdam hat sich Gedanken über „The Future of Sex“ gemacht. „Während wir immer öfter unsere Touchscreens streicheln, verlernen wir es, unsere Geliebten zu streicheln“, zitiert das Programmheft der Ruhrtriennale den Berliner UdK-Professor und Essayisten Byung-Chul Han.
Im Essener Choreographischen Zentrum PACT Zollverein streicheln wir nicht unsere Touchscreens, sondern wir hocken erwartungsvoll und ganz konventionell auf unseren analogen Theatersesseln. Liegt unterm Wunderbaum vielleicht doch ein Geheimrezept für uns ältere Theaterzuschauer, mit dem wir das langsame Erlahmen unseres Sexlebens aufhalten können? Ach … - auf der Bühne verfolgen wir: so gut wie keinen Sex, aber doch Gespräche über die schönste Hauptsache der Welt, und zwar in allen denkbaren Konstellationen: heterosexuell, homosexuell, Masturbation (dank Pre-Recordings sogar mit dem eigenen jüngeren Ich), flotter Dreier und Kinder-Sex. Ganz vereinzelt mal eklig, denn auch die fäkale Seite wird nicht ausgespart, meistens aber klinisch rein und mit sanguinischem Temperament: Sex, ein Untersuchungsgegenstand. Die Schauspieler mimen nicht (nur) echte Menschen, sondern „Robots“ - Sex-Robots halt. Auch ein Kindersex-Robot ist dabei, der aber am heutigen Abend leider krank ist von einem Erwachsenen mitgespielt wird – kein Gag, der Junge ist wirklich malad. Ein Frage- und Antwortspiel zwischen der hübschen, aber ebenfalls klinisch reinen Martje Remmers und Arnon Grunberg himself wird in deutscher Sprache gespielt und verläuft sich bald in Belanglosigkeiten. Immerhin: Sex sei die Überwindung von Angst, sagt Grunberg, und wer will, kann diese Aussage als Überschrift über die kleinen, nur ansatzweise ausgespielten folgenden Szenen sehen.
Die werden in niederländischer Sprache gesprochen, und der Herr Grunberg guckt interessiert zu aus seiner runden Weltraumkapsel, die ein bisschen wirkt als wäre sie einem 70er Jahre Science Fiction Film entsprungen. Gelegentlich greift er auch mal ein; gelegentlich wird – vor allem in der Eingangsszene – auch mal improvisiert. Schwung kriegt das alles nicht: Selbst wenn wirklich mal andeutungsweise gevögelt wird, gähnt man vor sich hin. Es fallen viele intelligente Merksätze, manche Ironie ist im Spiel, noch mehr Zynismus. Die echten Menschen thematisieren ihre Sehnsüchte und Einsamkeiten, ihre Scham und Begierde, und letztlich ist Grunbergs Computerliebe eine einzige, traurige Dystopie. Das Streicheln der Touchscreens, soviel wird klar, ermöglicht uns auch das Ausleben verbotener sexueller Phantasien, aber echte Befriedigung verschafft es uns nicht. Die sexuelle Befreiung sei ein Mythos, sagt Arnon Grunberg: „Wir können den kleinen Gefangenen, der in uns rumort, nicht befreien, wir können ihm höchstens für einen kurzen Moment etwas frische Luft verschaffen.“
Eine Erkenntnis, für die wir kaum nach Essen hätten fahren müssen. Irgendwie ist das alles, obwohl es inhaltlich die Grenzen des Sextriebs auszuloten versucht, ziemlich leb- und konfliktlos. Es stellt sich gepflegte Langeweile ein. Da hat digitaler Sex doch mehr Erregungspotential!
(Dietmar Zimmermann)
Kurz und bündig:
Gedanken über Sex und Einsamkeit, verbotene Liebe und digitale Befriedigung. Aber Erregungspotential hat dieser Abend nicht.