Die morbide Wehmut des Nordens
„Das Schwierigste am Heiraten ist, dass man gemeinsam alt wird“, sagt Lot. Nun, in dieser Hinsicht muss er sich nicht sorgen: Lange wird seine Ehe mit Elly nicht dauern. Sie gehört zu den Dingen, die vorübergehen. Schon als Lot die bevorstehende Hochzeit ankündigt, stößt er auf wenig positive Resonanz. Die Familie scheint keinen Grund zum Jubeln über die Verbindung zwischen Lot und Elly zu sehen. Und das liegt an einem Ding, das nicht vorübergeht: an den psychologischen Auswirkungen eines Mordes, der sechzig Jahre her ist und noch immer seine Schatten auf die Familie wirft. Er hat sie wie in einer griechischen Tragödie für Generationen mit einem Fluch belegt.
Auch im zweiten Jahr der Intendanz des Niederländers Johan Simons inszeniert Ivo van Hove bei der Ruhrtriennale einen Roman von Louis Couperus – dem „niederländischen Thomas Mann“, den in der Heimat Thomas Manns niemand mehr kennt. Simons und van Hove haben beschlossen, dass sich dies ändern muss. Grandiose, vielschichtige Geschichten hat Couperus erzählt, die nur so brodeln von unterdrückten Trieben. Wir können sie leider nicht mehr in deutscher Sprache lesen, denn seit den 80er Jahren sind die Übersetzungen vergriffen. Aber die Toneelgroep Amsterdam erweckt sie bei der Ruhrtriennale zum Leben – zunächst Die stille Kraft im Jahr e 2015, jetzt Die Dinge, die vorübergehen. Die flirrende Hitze und der exotische Zauber des javanischen Laboewangi in der niederländischen Kolonialzeit sowie die daraus resultierenden erotischen Verwirrungen hatten die Atmosphäre von Die stille Kraft bestimmt. Die Dinge, die vorübergehen spielt im Jahre 1906 in Den Haag, doch der Mord, dessen Auswirkungen die Familie Dercksz schicksalhaft heimsuchen, hatte sich Mitte des 19. Jahrhunderts ebenfalls in den niederländischen Kolonien ereignet. Noch in der Rückschau ist ihm gleichfalls eine flirrende Hitze und Erotik zu eigen: Großmutter Ottilie, inzwischen 97 Jahre alt, und ihr Geliebter Herr Takma, 93 Jahre alt, haben Ottilies verhassten Mann getötet. Es war ein Mord aus Leidenschaft und Lebensgier, doch frei wurden Ottilie und Takma nie. 60 Jahre haben sie zusammengelebt; den verhassten Dercksz waren sie los, aber Doktor Roelofsz, der durch die Bestätigung einer falschen Todesursache den Mord deckte, ließ sich für die Vertuschung mit Ottilies Körper bezahlen. Noch im Tod sitzt Roelofsz neben Ottilie: rechts der tote Roelofsz, links der tote Takma, und in der Mitte in aufrechter Haltung die dem Ende entgegendämmernde Matriarchin.
Niemand hat von diesem Mord gewusst, glaubt Großmutter Ottilie. Und doch sagt sie angesichts der bevorstehenden Hochzeit von Elly und Lot: „Sie werden unsere Sünde erben.“ Denn Elly ist ihre Tochter, spät gezeugt mit Herrn Takma, und Lot ist ihr Enkel, Sohn ihrer ebenfalls Ottilie geheißenen ältesten Tochter und des ersten von deren drei Ehemännern. Mit keinem ist die liebessehnsüchtige, noch mit 60 Jahren attraktive Frau glücklich geworden; sie fühlt sich wohl auch erotisch hingezogen zu ihrem ältesten Sohn Lot. Die Annahme, dass niemand von Großmutter Ottilies und Takmas Tat gewusst hat, erweist sich als falsch: Ottilies Sohn Harold war im Alter von dreizehn Jahren heimlicher Augenzeuge der Tat und leidet immer noch unter einem Trauma. Sohn Daan hat durch einen Erpressungsversuch von der Angelegenheit Wind bekommen, und Sohn Anton geht recht ungeniert seinen pädophilen Neigungen nach, die selbst vor seiner Nichte Ina nicht haltmachen. Tochter Thérèse wiederum hat von dem Mord erfahren, als Ottilie sich vor dreißig Jahren in einer Fieberphantasie verriet. Thérèse hat sich daraufhin in ein lustfeindliches Christentum und ein freudloses altjüngferliches Dasein zurückgezogen.
Auszubrechen aus dem griechischen Götterfluch gelingt den Mitgliedern der Familie Dercksz nicht. In Jan Versweyvelds Bühne werden sie von einem riesigen Spiegel, der die Bühnenrückwand bildet, stets auf sich selbst zurückgeworfen. Zweimal kippt dieser Spiegel – beim ersten Mal gibt er einen Blick auf lebensfrohe italienische Strände und Städte frei: auf das Ziel der Hochzeitreise von Elly und Lot. Doch das Lebensfrohe ist nur die ferne Vision einer Videoeinspielung. Schnell kippt der Spiegel wieder. Schon die erotischen Spiele des jungen Brautpaares, das sich Erdbeeren und Sahne vom splitternackten Körper schleckt, haben nichts von der ausgelassenen, tabufreien Lust junger Liebe. Sie geschehen wie mit angezogener Handbremse, verkrampft, unter Druck, gehemmt von „dieser morbiden Wehmut“: „Der Liebe im Norden fehlt die Sinnlichkeit“, sagt Lot. „Sie wird immer nur Sympathie bleiben.“ Die Liebe in den südlichen Kolonien war sinnlich gewesen, aber sie hatte andere Risiken mit sich gebracht …
Der kurz eingeblendete Süden strahlt in frischen Farben, das von Schuld und Verdrängung gekennzeichnete Leben im nordischen Den Haag ist Schwarz: Ann D’Huys hat das gesamte sechzehnköpfige Ensemble in schwarze Kostüme gekleidet. Das erschwert dem Zuschauer zu Beginn die Unterscheidung der Figuren, doch Ivo van Hove gelingt es in seiner so präzisen wie einfühlsamen Inszenierung, für jede der handelnden Personen einen ausgesprochen prägnanten Charakter herauszuarbeiten. Herausragend gibt Frieda Pittoors die alte Ottilie, die wie erstarrt und versteinert auf ihrem Stuhl sitzt und ihr hohes Alter als Buße für ihr uraltes Verbrechen hinnimmt. Ein Leben versuchte sie dieses Verbrechen zu verdrängen, doch immer wieder bricht sich das Bild der Mordtat vor ihrem geistigen Auge Bahn. Mit einem langgezogenen Schrei deutet sie in die Richtung, in der sie die Geistererscheinung ihres toten Mannes sieht. - In einer Mischung aus Mitleid und Gruseln folgt man Celia Nufaar als Thérèse, die der Welt entsagt und sich in einen fast fundamentalistischen Glauben geflüchtet hat – wohl nicht aus Nähe zu Gott, sondern aus Furcht vor seiner Strafe. Großartig der lebensuntüchtig gewordene Harold des Hans Kesting, der das bei der Beobachtung der Ermordung seines Vaters erlittenes Trauma nicht bewältigen kann. Überzeugend gibt Aus Greidanus jr. den im Grunde haltlosen Lot, der die Wehmut verkörpert, auf der Suche nach der Empfindsamkeit ist, die ihm die echte Liebe zu einer anderen Frau als seiner Mutter und die Kraft zur Rückkehr zur Schriftstellerei ermöglichen würde. Und alle zusammen stemmen sich gegen ihr Leid und versuchen verzweifelt, die Fassade ihres großbürgerlichen Lebens aufrechtzuerhalten. Selbst in kleinen Nebenrollen wie Janni Goslingas Haushälterin Anna gelingen dem Ensemble wunderbare schauspielerische Miniaturen.
Van Hoves makellose Inszenierung wird kongenial unterstützt von der Sound-Installation und der Live-Musik von Harry de Wit. Das leise Weh der Glocken, die de Wit am hinteren Ende der Bühne bedient, begleitet die Handlung, und permanent ticken die zahlreichen Pendeluhren, die die unendlich langsam vergehende Zeit anzeigen, aber vielleicht auch das Schicksal, das an die Pforten der unglücklichen Familie klopft. Mit dem Tod der Alten stoppen die Uhren ihren Lauf. Harold fühlt sich endlich von seinem 60 Jahre währenden Trauma erlöst, und die zuvor nach einem wahren Höllensturz schwarzer Papierfetzen in düsterstes Dunkel gehüllte Bühne wird plötzlich weiß. Nicht gleißend, sondern neblig – und mitten in diesem Nebel spielt Harry de Wirt auf der Bassklarinette eine melancholische Melodei. Die dunkle Vergangenheit wird zugedeckt; es besteht die Möglichkeit des Vergessens anstelle des Verdrängens. Aber noch ist unsicher, ob in das Leben der Familie ein wenig Licht einziehen kann. Noch überwiegt die morbide Wehmut des Nordens, mit der Ivo van Hove uns zweieinviertel Stunden lang verzaubert hatte. Wir haben sie eingesogen mit jeder Pore unseres Körpers. Und wir lernen jetzt Niederländisch, damit wir endlich die Romane von Louis Couperus lesen können.