Fressen, prahlen, huren - und mehr
Die Sieben Todsünden? Ach ja, ist das nicht dieser verstaubte Verbotskatalog von Anno Dazumal? So ein Reglement aus jenen Zeiten, da die Vertreter der Kirche meinten bestimmen zu müssen, was dem sozialen und gesellschaftlichen Leben vor allem der „kleinen Leute“ gut tut und vor allem: was nicht? Todsünde: was war das noch? Mord und Ehebruch vielleicht. Aber wer – außer vielleicht die Schar heutiger Hardliner-Christen - weiß eigentlich im 21. Jahrhundert noch was von „Todsünden“, von schweren Lastern, deren Ausübung geradewegs von Gottes heiligem Erdboden hinab in die flammende Hölle führt?
Dass Neid und Völlerei, Hochmut und Geiz, Wollust, Zorn und Faulheit auch in unserer Gegenwart relevante Phänomene sind, über die nachzudenken sinnvoll sein könnte, davon ist Alexander Becker überzeugt. Der Regisseur und Stücke-Autor entwickelte einen abendfüllenden „theatralischen Sündenfall“ unter dem Titel Peccatum Mortiferum – ein Projekt für ein ganz spezielles Ensemble: dem „TheaterX“ aus Münster, in dem sich hoch motivierte Laien-SchauspielerInnen seit nunmehr elf Jahren versammeln, um ein auf sie maßgeschneidertes Projekt gemeinsam mit Alexander Becker auf die Bühne zu bringen (siehe Portrait unter theater:persönlich).
Diesmal also Peccatum Mortiferum. Wenn das Bühnenlicht aufgedreht wird, bevölkern nach und nach jene museal gekleidete Menschen die Szene, die sich zuvor noch in das auf Einlass wartende Premieren-Publikum gemischt hatten: einfache bäuerliche Leute ebenso wie honorige Herrschaften – und der schwarz verhüllte, Kapuze tragende Tod! Eine Reise in die Vergangenheit. In eine Zeit, da Hexen reihenweise auf Scheiterhaufen landeten. So wie Magda. Sie habe Schande über die Dorfgemeinschaft gebracht, klagt deren Bürgermeister. Magdas Tod auf den brennenden Holzscheiten sei ein abgekartetes Spiel, für den es keinen Grund gebe, insistiert dagegen Magdas Schwester. Und so wird unter dem Vorsitz des Landgrafen verhandelt. Je länger, desto spannender! Was da nicht alles heraus kommt über die Verhältnisse vor – sagen wir: dreihundert Jahren in dem kleinen Sprengel in Münsters Norden. Zeugen treten auf, falsche oder wahre – wer mag das beurteilen? Der eine so, die andere so... Und schon geht’s um die vermaledeiten Laster, die... Todsünden. Da kommt selbst der scheinheilige Dorfpfarrer schnell unter Druck. Und der Bürgermeister wird handgreiflich, als die blinde Bettlerin, einst seine Haushälterin, vor versammelter Mann- und Frauschaft „auspackt“. Er befördert sie mit seinen eigenen Händen im Affekt ins Jenseits - Initialzündung für alle Übrigen, ihrer brutalen Gewalt freien Lauf zu lassen. Am Ende sind (fast) alle tot. „Wahn, Wahn, überall Wahn“ könnte man da frei nach Richard Wagner sagen!
Nach diesem Gemetzel: Pause! In der Pause gibt es Brause – und danach liegen sie da immer noch, all die Toten. Bis flugs das hermetisch verpackte Reinigungspersonal kommt und die Körper fachgerecht entsorgt. Bühne frei und clean für die Darstellung dessen, was Eitelkeit und Habgier, Begehren, Rachsucht und was sonst noch alles „Peccati Mortiferi“ im 21. Jahrhundert sein könnte und womöglich ist. Hier kommt der Dreh, hier macht Alexander Becker uns deutlich, dass die antiquiert scheinenden Regeln (nichts anderes ist die Negativ-Liste der Todsünden) offenbar gar nicht so antiquiert sind. Zwei mal sieben Personen ziehen ein: die konsequent in Weiß eingekleideten personifizierten Sünden nebst ihren „Puppen“ im echten Leben. Je länger sie agieren, desto deutlicher wird, dass „Laster“ auch die aktuelle Gesellschaft prägen, sie beeinflussen, sie mitunter dominieren. Geld scheffeln um des Scheffelns willen; faul sein, weil man den Hintern nicht hoch bekommt und einem eigentlich alles egal ist, man seine Ruhe haben will – nur zwei Extrempositionen in Beckers zweitem Teil dieses „theatralischen Sündenfalls“. Becker kommt nirgends mit dem Holzhammer, um uns einzubläuen, wie dekadent ein Teil unserer Gesellschaft ist. Er macht es stellenweise mit viel Humor, nimmt dabei seit gefühlter Ewigkeit laufende TV-Formate wie Das perfekte Dinner aufs Korn, indem er uns dessen Lächerlichkeit und – mehr noch – Unehrlichkeit präsentiert. „Welch ein wunderbares Ziegenkäseparfait...“ heißt es gegenüber der Gastgeberin. Dabei hat’s kaum jemandem der smarten Gäste geschmeckt, wie wir kurz darauf erfahren. Oder das gedämpfte Schwein unter der Kräuterkruste oder der Bio-Salat vom Öko-Bauern Martin...
Nur noch zwei markante Szenen als pars pro toto für eine insgesamt durch und durch toll geschriebene, inszenierte und erst recht gespielte Geschichte: der „Neid“ – und wie er einen Menschen förmlich „auffressen“ kann! Sich mit anderen vergleichen, sich defizitär fühlen, haben wollen, was andere auch haben... und die „Eitelkeit“ – immer im Mittelpunkt stehen wollen, sich über andere erheben, unbedingt wichtig sein, sich an den eigenen Selfies ergötzen... – das waren schon eindringliche Theater-Momente!
Glückwunsch an alle 27 Laien-SchauspielerInnen! Sie alle haben ein dramaturgisch gut gebautes Stück nicht einfach „nur“ gelernt und dann nachgespielt – sie haben es überzeugend mit Leben erfüllt. Genau so muss es sein: dass das Publikum regelrecht „angesteckt“ wird und dem Bühnenpersonal an den Lippen hängt. Riesenapplaus nach dieser fulminanten Premiere!
Sie, die Darstellerinnen und Darsteller haben es verdient, dass ihre Namen genannt werden:
Hans Ackerstaff, Katja Angenent, Magdalena Averbeck, Cornelia de Roos, Christoph Elte, Sabine Flora, Peter Fipke, Ilona Giesen, Doris Gilhaus, Donata Godleweska, Christoph Joest, Lisa Marie Kormann, Karin Gövert, Christian Harnisch, Heike Hombach, Sebastian Klöpper, Sabine Krack, Anne Lehmkuhl, Hiltrud Luthe, Adelina Meyer, Elke Nagel, Anke Rothenberg, Bernd Rosenkranz, Ulrike Sallandt, Mareike Schulte, Werner Stolz, Teresa Zemamta.