Geld macht nicht glücklich
In der Gießhalle im Duisburger Landschaftspark-Nord kommt der zweite Teil der Trilogie meiner Familie zur Aufführung, in der Luk Perceval uns die Geschichte der Familie Rougon-Macquard nach dem zwanzigbändigen Romanzyklus von Émile Zola in drei Theaterabenden zusammenfasst.
Vor einem Jahr machte die Ruhrtriennale mit Liebe den Auftakt zur Darstellung der „Natur- und Sozialgeschichte einer Familie im Zweiten Kaiserreich“, in der der Rougon-Zweig der Bourgeoisie und der Macquard-Zweig der Unterschicht angehören. Von 1870 bis 1893 schrieb Zola an diesem opus magnum, von dem im ersten Teil das siebte und das letzte Buch (Der Totschläger und Doktor Pascal) den Bühnenstoff lieferten. Im Mittelteil der Trilogie verwebt Perceval nun die Geschichten der drei Romane Nana (Teil 9 des Zyklus‘), Das Paradies der Damen (Teil 11) und Geld (Teil 18) zu einem temperamentvollen Geschehen um Industrialisierung und Kapitalismus und die menschlichen Verformungen darin.
„Wetterfeste Kleidung“ wird auf der Eintrittskarte angemahnt, und tatsächlich ist es am Premierenabend trotz des Sommerwetters empfindlich zugig in der teils offenen Gießereihalle, in deren Mitte – wie beim ersten Teil – eine riesige Holzwelle platziert wurde. Und auch das Seil baumelt wieder aus dem Dachgebälk. Doch während der Bühnenaufbau im letzten Jahr ein wenig verloren in der Industriehalle stand, deutet eine schiefe Treppe aus dem Bretter-Material der Hallengalerie optischen Kontakt zur Umgebung an. Auch der monumentale Hochofen hinter der Bühne wird diesmal von der raumgreifenden Musik und obskuren Figuren, die sich sporadisch in dem Gestänge bewegen, einbezogen. Ferdinand Försch begleitet die Aufführung mit einem Soundtrack, der die Handlung dramatisiert und kommentiert, der gelegentlich an das Dröhnen, Schlagen und Ächzen in einer Industriehalle erinnert, dann aber auch wieder die Emotionen der Spieler unterstreichend und reflektierend verklingt.
Die Geräuschkulisse ist allerdings die einzige Beigabe aus der heutigen Zeit. Die Figuren, die auf der Bühne erscheinen – und die meiste Zeit auch irgendwo im Bühnenraum bleiben – scheinen aus der Zeit gefallen: Sprache und Kostüme führen uns ins 19. Jahrhundert zurück. Doch hören und schauen wir genau hin, so ist alles, was verhandelt wird, so aktuell wie vor über hundert Jahren. „Die Figuren leiden an Emotionen, die auch heute uns noch verrückt machen und verzweifeln lassen. Zudem beschreibt Zola Zustände, die bis heute die Basis unserer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme sind“, erklärt Perceval im Programmheft.
Mit Getöse stürmen die Schauspieler/innen des Hamburger Thalia-Theaters auf die Bühne, auf der ein Dutzend Schreibmaschinen - damals der Gipfel der Bürotechnik – die einzigen Requisiten bleiben werden, bis sie gegen Ende, im Taumel des allgemeinen Niedergangs, zu einem Schrotthaufen aufgestapelt werden. Wer letztes Jahr Liebe sah – und das ist etwa die Hälfte des Publikums – freut sich, Gestalten wiederzuerkennen: Zunächst Dr. Pascal (Stephan Bissmeier), der oben auf der Welle schmerzvoll Abschied von seiner großen Liebe, seiner Nichte Clotilde (Marie Jung) nimmt. Doch, um seine Worte „verzeih mir, versuch glücklich zu sein“ zu verstehen, ist es gut, den ersten Teil gesehen zu haben. Er wird an der unglücklichen Liebe zugrunde gehen und sein Lebenswerk, die Erforschung der genetischen Determination, wie etwa das Suchtverhalten in seiner Familie, wird von seiner Mutter Félicité (Barbara Nüsse) in einem einzigen, grandiosen Auftritt vernichtet, um den Ruf der Familie zu retten. Doch gerade diese (heute überfällige) Erforschung von Erbanlagen und Zwängen war es, die Zola beschäftigte und sein Werk theorielastig macht. Perceval reduziert die Theorien in diesem zweiten Teil auf ein Minimum, doch bleibt das Motiv der unkontrollierbaren Sucht zentrales Thema: was im ersten Teil das Verlangen nach Liebe und die Trunksucht waren, sind jetzt Geldgier, Gewinn- und Geltungssucht. Und mit der Beschreibung der naturgegebenen Unabdingbarkeit menschlicher Schicksale gehört Zola zu den Schöpfern des literarischen Naturalismus.
Eine zweite Figur aus dem Teil Liebe, der wir wiederbegegnen, ist Nana (Maja Schöne), eine der Hauptfiguren des Abends, der Zola einen ganzen Roman widmete. Als einzige Tochter der Wäscherin Gervaise Macquard, die im Alkoholismus verkam, ist sie fest entschlossen, dem Sumpf zu entkommen. Sie wuchert mit dem Kapital ihres Körpers, ruiniert die Männer, genießt ihre diabolische Macht über sie und demütigt sie bis zur Vernichtung. Mit der Floskel: „Ich hab damit nichts zu tun!“ entzieht sie sich jeder Verantwortung. Sie glaubt sich stark in ihrem schillernden Halbseiden-Leben als Edelprostituierte und Varieté-Schauspielerin, sie scheffelt Geld, das sie dann aber nicht wirklich will: „Ich will alles besitzen, um alles zu zerstören“, schreit sie. Am Ende verbrennt sie ihre Diamanten und geht zu Grunde an einer Leidenschaft, die sie nicht eingeplant hatte: sie verliebt sich und treibt beide in den Tod.
Den weiblichen Gegenpol bildet Denise (Patrycia Ziolkowska), eine kluge junge Angestellte, die „anständig“ ist und sozialistisch-kommunistischen Utopien nachhängt. Sie ist immun gegen die Verlockungen des Geldes und der Männer. Mit „ich will nicht und ich kann nicht“, lässt sie ihren Chef, den reichsten Mann der Geschichte, stehen.
Und damit kommen wir zur Hauptfigur des Mittelstücks: Börsenspekulant und Kaufhausgründer Saccard (bei Zola zwei Figuren), Bruder von Dr. Pascal, Liebhaber von Nana und unsterblich verliebt in die spröde Denise. Im Grauen-Streifen mit Zylinder gibt Sebastian Rudolf den besessenen Kapitalisten ganz locker, beinahe sympathisch. Er glaubt an das Wunder der unbegrenzten Gewinnmaximierung, will das Mittelmeer befahren und den Orient erobern. Es ist die Zeit der Kolonialisierung Afrikas und Asiens, die technische Machbarkeit eröffnet ganz neue Welten. Zola nimmt das auf, diagnostiziert ohne zu verurteilen. Wir stellen fest: Da braucht es keine Aktualisierung. So manche Methode und Katastrophe hat sich erhalten: man handelt mit Geld, das es gar nicht gibt, man lockt die Menschen mit raffinierten Marketingstrategien und dann wird der alte Regenschirmmacher in den Ruin getrieben, um an sein Grundstück zu kommen. (Das hatten wir schon in Goethes Faust!) Doch am Ende sitzt der charismatische, lebenslustige Saccard bankrott und gebrochen neben dem Schrott seiner Maschinen.
Ein brisantes Thema und ein geniales Verzahnen der unterschiedlichen Handlungsstränge, die zu verfolgen nicht immer leicht ist, auch wenn Martine (Oda Thormeyer) - schon im ersten Teil die Haushälterin von Dr. Pascal - uns engagiert mit Witz und Anteilnahme als Erzählerin immer wieder aufzuklären sucht. Die Charaktere sind relativ bald erfasst und entwickeln sich nicht wesentlich bis zu ihrem dramatischen Ende. Da kreiert auf der puren Bühne allein die grandiose Schauspielkunst des gesamten Ensembles immer wieder neue Aufmerksamkeit. So schafft es die phantastische Barbara Nüsse, die sich bis zum Überdruss wiederholende Unterwerfungsszene des geilen, halbtoten Grafen als Groteske doch noch erträglich zu präsentieren. Insgesamt fehlt dem zweiten Teil etwas von der Klarheit und Dramatik des ersten.
Im nächsten Jahr wird sich der dritte Teil des Gesamtwerkes unter dem Titel Hunger mit den Bergarbeitern befassen. Dann ist die Inszenierung tatsächlich in der Industriespielstätte im Ruhrgebiet angekommen. Vorgesehen ist, die drei Teile hintereinander zu spielen. Das erinnert an die Aufführung von Percevals Schlachten 1999, ein Theaterprojekt über zwölf Stunden, das in Duisburg in einer dachfreien Halle aufgeführt wurde, über der die Vögel kreisten.