Alice im Sumpfland
Mitten im Bottroper Maisfeld steht ein furchtbar abgewracktes Haus. Mit Treibsand davor und Pfützen darum herum. Schaurig ist‘s, übers Moor zu gehen, wenn unter jedem Tritt ein Quellchen springt. Doch Droste-Hülshoff war gestern: Nicht die Ranke häkelt am Strauche, sondern der Kühlschrank. Der Wohnzimmersessel, der Küchentisch, die Schubkarre. Sie alle hängen, mit einer Art Flaschenzug hochgezogen, an kahlen Baumstämmen. Ächzend schleppt Alice die Waschmaschine aus dem Haus, um auch sie an den Stamm zu hängen. „Es geht darum, das Haus leichter zu machen“, ruft sie, denn, ach ja: Das Haus hat ebenfalls Schlagseite. Es droht, im Morast zu versinken.
Das Bühnenbild, das Kwint Manshoven und der Mitgründer des belgischen Studio ORKA Philippe Van de Velde für ihre jüngste Theaterproduktion entwickelt haben, ist Weltklasse. Kein Wunder, denn das Künstlerkollektiv bringt zwar nur eine Theaterinszenierung pro Jahr heraus, steht aber ansonsten für multimediale Installationen, die auf die Interaktion zwischen Bild, Form und Inhalt setzen. Ein trauriges Klavier steht schief im Sumpf, und in der Nacht zuvor sank ein alter Citroen CX nach einer Panne mit dem rechten Vorderrad ins Moor. Im Auto gammeln noch die Mitglieder der Rockband vor sich hin, die uns im Laufe dieses Nachmittags mit ein paar fetzigen Weisen erfreuen werden. Erst als die beharrlich schuftende Alice zur Arbeitspause ruft, entsteigt ihr Bruder Jules den Tiefen von Bottrops sumpfiger Erde. Er verschwindet behände im Maisfeld und erwürgt ein ausgewachsenes Wildschwein, das sich dort versteckt hat. „Ist noch Platz im Gefrierfach?“
Lustig ist das Zigeunerleben in dem ärmlichen Haus, das in glücklicheren Zeiten eine Radrennfahrerkneipe war. Heute kehrt dort nur noch selten jemand ein. Daan kommt vorbei und schlenkert mit der Aktentasche – ein Lehrer, dem die Kinder auf dem Kopf herumtanzen und der tut, als merke er es nicht. Ein Loser, ein Versager - und ein netter, gemütlicher Typ. Ulrike saust mit dem Rennrad an und bringt einen Blumenstrauß – übersandt von ihrem Vater, dem Rennfahrer Frankie Van de Ginste. Seit zehn Jahren schickt er Blumen zu diesem Jahrestag. Ulrike ist ein fröhliches junges Mädchen. Vor mehr als zehn Jahren war sie Daans Schülerin, und sie hat ihn kennengelernt als einen hervorragenden, umsichtigen, empathischen Pädagogen. Vielleicht hat sie ihn sogar ein klein wenig geliebt. Doch die Stimmung, die Ulrike in die Bude bringt, kippt. Es gibt da ja diesen Jahrestag, von dem wir nichts weiter erzählen möchten. Denn wie die Stimmung kippt, vom permanent kitzelnden Lachen in der Kehle zu Beginn bis zum Erschrecken am Ende – das soll der Leser ganz unbefangen selbst erleben. Das (Zuschauer-)Volk im Kornfeld, das anfangs mächtig mitgeht bei den slapstickartigen Gags, wird in den letzten zwanzig Minuten mucksmäuschenstill. Ängstlich schauen die Kinder, und wer als Erwachsener kurz zuvor die Augenbrauen gerunzelt hatte angesichts des nicht enden wollenden Klamauks, ist erleichtert, als endlich wieder fröhlich Fußball gespielt wird.
Mit seiner Aufführung steht das Studio ORKA vor dem Dilemma, das jede Jugendtheater-Inszenierung hat, die sich gleichzeitig an Erwachsene richten will: Wie hält man die Aufmerksamkeit der Kinder, ohne die Eltern und Großeltern gelangweilt zurückzulassen? Die ORKAs setzen zunächst einmal auf clowneskes Spiel. Im ersten Teil jagen einander die Gags, witzig und intelligent dargeboten, und selbst wenn bei nüchterner Betrachtung nicht alle Scherze den gleichen Tiefgang haben wie die untergehende Kneipe, brach auch der Rezensent mehrfach in Lachen aus. Die Aufführung ist nicht nur spritzig im übertragenen Sinne, sondern ganz real: Das sumpfige Wasser spielt eine Hauptrolle. Die Schauspieler – insbesondere Janne Desmet als Alice, aber auch Titus Devoogdt als hyperaktiver Schlawiner Jules – scheuen vor keiner Schlammschlacht und keiner körperlichen Anstrengung zurück: Das ist Körpertheater total. Das Publikum geht mit wie selten im Theater: johlend und skandierend feuert es die Schauspieler an, lacht und klatscht und pfeift. Doch wer zwischen den Zeilen lauscht, wer die Rolle des Clowns in einem guten Zirkus kennt, der hört die traurigen Wahrheiten, die hier ausgesprochen werden, der spürt die innere Gebrochenheit des Lehrers hinter seiner nachsichtigen Menschenfreundlichkeit und die Schwermut der Alice hinter ihrem aufgedrehten Aktivismus.
„Manchmal siehst du alles schwarz“, sagt Alice. Und die Band spielt einen melancholischen Rock. Das tut der reichlich hyperaktiven Aufführung gut, die im zweiten Teil ein wenig zu versanden droht im allzu oberflächigen Klamauk. Selbst die Kinder scheinen die Längen zu empfinden, wenn allzu ausgiebig das fraglos für die Kleinen eingebaute „Pommes-Schranke-Essen“ zelebriert wird. Doch dann: folgt die Auflösung. Folgt die Tragik. Der Schluss-Act, der die Erwachsenen erschüttert. Wer jemals seinen Kindern erläutern will, was eine Metapher ist, der erzähle ihnen von dieser Geschichte. Fast unmerklich kippt die lustige Story - in einer Szene, die in ihrer Sportlichkeit und ihrer Verspieltheit noch für die kleineren Kinder gemacht scheint: einem Wettbewerb ums Luftanhalten, den Alice und Ulrike mit tief ins Muddy Water getauchten Köpfen miteinander austragen. Den Alice gewinnt: „Wenn man etwas macht, dann muss man es gut machen!“ – Und der sie verzweifelt auf ihre armselige Existenz zurückwirft: „Man muss etwas durchhalten. Das Haus geben wir nicht auf.“
Jetzt ist die Zeit für die Wahrheiten: Zunächst für Daan, den seine Schüler längst einen „dicken Pavian“ schelten, der sich als „talentlose Fettqualle“ bezichtigt. Und dem dann Jacques Brels Zitat entgegengehalten wird: „Le talent, ca n’existe pas. Le talent, c‘est d’avoir envie de faire quelque chose.“ Musik zu machen beispielsweise: Schon mutiert Dominique Van Malder zum hinreißenden Rockstar im Guns N‘ Roses T-Shirt und mit verspiegelter Sonnenbrille. - Und dann für Alice. Auch sie begreift: Wenn man etwas macht, dann muss man es gut machen – aber: „Man kann auch auf halbem Weg zum Berg eine Super-Aussicht haben.“ Wir erfahren, warum sie sich klammert an dieses Haus. Das eben nur eine Metapher ist. Eine Metapher für ihr Unglück, das über die Familie hereinbrach an diesem Tag vor zehn Jahren. So wie der Sumpf die Metapher ist für die Tränen, die sie geweint hat. Alice begreift, was schon die späten 68er wussten: Macht kaputt, was euch kaputt macht. Konzentriert und ungeheuer suggestiv erzählt die zuvor so schrille Janne Desmet die Geschichte ihres Unglücks. Und sie kappt die Halteleinen der maroden Kneipe, die Verbindung zu ihrem Leid. Alice und Jules, Ulrike und Daan spielen ausgelassen Fußball. Das sumpfige Wasser, das sind jetzt nur noch die Tränen unserer Empathie. Standing Ovations.