Übrigens …

Romeo und Julia im Theater Bonn/Schauspielhaus Düsseldorf

Hass heißt die Mutter ihrer Liebe

Ist die eigentlich bekloppt, diese Julia? Heiratet einen Kerl, den sie gerade mal seit ein paar Stunden kennt und der zu den größten Feinden ihrer Familie zählt. Heimlich, mit Hilfe eines Pfarrers, der sich bei Lichte betrachtet als höchst seltsamer Heiliger und dubioser Giftmischer herausstellt. Ihr Gatte bringt prompt ihren Vetter Tybalt um. Und statt froh zu sein, dass keiner von ihrer heimlichen Vermählung weiß, schreit Julia hinaus, dass die Verbannung des Mörders sie viel stärker trifft als der Tod ihres nahen Verwandten. In manchen Kulturen wäre diese Geschichte Anlass für den nächsten Ehrenmord. Die Regisseurinnen Laura Linnenbaum und Bernadette Sonnenbichler glauben angesichts dieser Vorgeschichte nicht an Versöhnung.

Laura Linnenbaum, Jahrgang 1986, und Bernadette Sonnenbichler, Jahrgang 1982, haben zu Beginn der neuen Spielzeit am Theater Bonn respektive am Düsseldorfer Schauspielhaus Shakespeares Romeo und Julia inszeniert. Vor zehn Jahren schien es, als sei dieses Stück eine der schönsten Komödien der Weltliteratur. David Böschs vergnügliches Pop-Märchen am Schauspielhaus Bochum (2004) und die karibische Lebensfreude der jugendlich-frischen Highspeed-Inszenierung von Irina Brook am Théâtre Vidy-Lausanne (2002) schienen diese These zu belegen. Doch wer angesichts des jugendlichen Alters von Linnenbaum und Sonnenbichler erneut überschäumende Lebensfreude erwartet, sieht sich getäuscht. Beide sind sich einig: Romeos und Julias Liebe ist in ihrer Bedingungslosigkeit nicht möglich ohne den Hass, der die Welt beherrscht: die Welt der Familien Capulet und Montague, den Krieg in Verona – und unsere heutige Welt noch immer. Die Bonner Julia erkennt dies im selben Moment, als sie von Romeos Identität erfährt: „Dann heißt die Mutter meiner Liebe Hass?“

In Bonn sehen wir Falling Men. „Faul ist der Frieden, den der Morgen bringt“, heißt es bei Laura Linnenbaum schon in der ersten Szene. Die Choreographie fallender und wieder aufstehender Männer wird sich am Ende wiederholen, denn auch wenn sich bei Shakespeare (nicht bei Linnenbaum) die Capulets und die Montagues versöhnen, gilt immer noch: Dieser Frieden scheint faul. Auch Julia befindet sich jetzt unter den fallenden Gestalten, so wie ihr Romeo, wie Tybalt und Mercutio – aber sie sind nicht mehr Romeo und Julia, Tybalt und Mercutio, sie sind die ewigen Opfer des andauernden Hasses. - Noch radikaler wirkt das Ende der Geschichte bei Bernadette Sonnenbichler in Düsseldorf: „Krieg will ich! Krieg! Und jetzt!“, lautet das Schlusswort in ihrer Inszenierung. Die Vertreter der „two households, both alike in dignity“, stehen im Halbdunkel, würdevoll trauernd und gleichzeitig mit geifernder Aggressivität nach neuem Blutvergießen lechzend. Sie wollen Krieg und Vergewaltigung: „Die Männer leg ich um, die Frauen auf den Rücken!“ – der Halbstarken-Satz vom Beginn des Dramas wird am Ende zum Fanal der Gewalt.

Auch Sonnenbichlers Düsseldorfer Inszenierung hatte mit einem Best Of der Hass- und Gewalt-Zitate aus Shakespeares Liebes-Tragödie begonnen, suggestiv vorgetragen zunächst vom Romeo-Darsteller Stefan Gorski und anschließend von einem skandierenden Chor. Doch während Linnenbaum in Bonn Kampfmetaphern und Liebesszenen zu einem nur milde gewürzten Eintopf zusammenrührt und Shakespeares Drama ohne allzu große emotionale Aufwallungen nacherzählt, grenzt Sonnenbichler junge, wahrhaftige Liebe und fundamentalen Hass präzise voneinander ab. Die Regisseurin schont nicht einmal ihren Helden: Auch in Romeo, der bald auf Versöhnung aus ist, um seine Liebe zu ermöglichen, brechen sich unbändiger Hass und Wut Bahn, als er Tybalt tötet. Grundiert ist dieser Hass, auch wenn man dem Angeklagten zugutehalten möchte, dass der Mord im Affekt geschah, in einer generationenalten bösen Tradition. Vielleicht meinte Shakespeare ja Palermo, als er von Verona sprach.

„The Ego must be developed“, schreibt Benvolio in Düsseldorf auf die Folie, die zeitweise die Vorder- und die Hinterbühne voneinander trennt. Dabei gibt es der Alphatiere ja schon genug in den Familien Capulet und Montague, auch wenn die ein wenig tumb daherkommen. Eher bedarf es der Entwicklung von differenziert denkenden Persönlichkeiten. Und siehe da: Über eine solche verfügt die Düsseldorfer Julia. Lou Strenger lässt ihre Figur zwischen der Verträumtheit eines verknallten Teenies und der sanften, aber klugen Diplomatie einer erwachsenen jungen Frau changieren. Ob sie schon mal ans Heiraten gedacht habe? „Von dieser Ehre träumte ich noch nicht.“ Sie solle nicht traurig sein, denn sie sehe den Verlobten Paris ja bald wieder? „Lasst mich doch den beweinen, der mir fehlt …“ – In solchen Momenten wirkt Lou Strenger souverän und elegant wie Kate Middleton. Nach der Premiere gab es Stimmen, die behaupteten, man glaube den beiden Protagonisten ihre Liebe nicht. Nun, manchmal wirkt Strengers Julia, als wäre sie mehr verliebt in ihre eigene Liebe als in ihren Loverboy Romeo. Der wiederum hat bei Stefan Gorski seine stärksten Momente nicht in den Paar-Szenen, sondern wenn er solo von seiner Angebeteten schwärmt. Das passt zu einer Inszenierung, in der die große Liebe durch die externen Umstände, durch Krieg und Hass determiniert ist. Strenger und Gorski spielen den Subtext der Inszenierung mit.

Auch die übrigen Charaktere sind in Düsseldorf klar ausgeformt: Karin Pfammatters Amme ist ein reichlich aufgedrehter Irrwisch, Kilian Lands Tybalt ein provokanter roter Stutzer, Alexej Lochmanns Benvolio und Andrei Viorel Tacus Mercutio haben manche Clowns-Szene, wobei der leicht schwul angehauchte Mercutio sogar eine mephistophelische Ausstrahlung hat, wenn er sich Romeo nähert, um ihm seine Gedanken einzuflüstern. Lutz Wessel gibt den Vater Capulet anfangs als alkoholseligen Patriarchen, doch nach der Pause, als die Inszenierung an Härte gewinnt, zeigt er sein wahres Ich: Er ist der missgünstige, despotische Diktator und Mafia-Boss. Paris, dem in Düsseldorf im Vergleich zur Bonner Inszenierung nur eine marginale Rolle zukommt, wird zum Oskar aus Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald, als er Julia bei Bruder Lorenzo trifft: Er macht ihr eiskalt klar, dass sie seiner Liebe nicht entgehen wird. Wenn er sich da mal nicht vertut…

Sonnenbichler nutzt die Übersetzung von Wolfgang Wiens mit ihren oft charmanten, ebenso oft aber auch übersexualisierten und obszönen Schlüpfrigkeiten. In Düsseldorf werden diese Textpassagen noch ausgebaut – weniger wäre da manchmal mehr gewesen. Fast während der gesamten Spieldauer begleitet ein atmosphärisch perfekt auf das Geschehen abgestimmter Soundtrack die Aufführung, größtenteils live hergestellt von den grandiosen Elif Dikec und Yotam Schlezinger auf der Hinterbühne. Manchmal weht dieser Soundtrack kaum merklich und so zauberhaft heran, so dass man sich in den Märchenwald des Sommernachtstraums versetzt fühlt, dann wieder ist er aufbrausend und dräuend. Ebenso gelungen sind die Lichtspiele von Wolfgang Wächter und Christian Schmidt. Ein kleines Meisterwerk ist die Bühne von David Hohmann: Ein metallenes Gitter, das in weitem Bogen die gesamte Breite der Bühne umspannt, symbolisiert die kalte Eleganz der Macht, während dahinter ein kleines Wäldchen die Romantik verkörpert – vielleicht sind es ja wirklich die Bäume aus dem Sommernachtstraum-Wald, in dem Liebesverwirrungen stattfinden, denen nicht so ganz zu trauen ist. Hass und Liebe, die bei Sonnenbichler ohne einander nicht vorstellbar sind, finden in diesem Bühnenaufbau ihre Entsprechung.

Wenn gegen Ende, als Julia ihr Schlafmittel einnimmt, Tybalt und Mercutio und nach seinem Tod auch Paris als Untote im Gestänge des Gitters turnen wie dereinst die Hexen in den Fensternischen bei Luk Percevals Ruhrtriennalen-Macbeth, wissen wir, dass Gewalt und Tod sich in einer nicht endenden Spirale wiederholen werden. Ein Happyend ist spätestens in dieser Szene ausgeschlossen, und im Schlussbild setzt das eng umschlungene Liebespaar im Spotlight den Hassparolen im Halbdunkel nur eine unerreichbare Utopie entgegen.

Auch in Bonn setzt Valentin Baumeisters Bühne einen der stärksten Akzente des Abends. Eine oft sich drehende Trommel, eine Kreuzung aus Schicksalsrad und Betonmischmaschine, versinnbildlicht die Übermacht der Kräfte, die die handelnden Akteure gegeneinander schleudern. Es ist ein schlechtes Omen, dass die erste, in einer stummen Choreografie anrührend inszenierte Begegnung zwischen Romeo und Julia ausgerechnet in dieser Schleudertrommel stattfindet. Andererseits: Außerhalb der Trommel hat man auch keinen sicheren Boden unter den Füßen: Prekär schwankende Holzstege führen über brackiges Flachwasser und brechen nach den Morden an Mercutio und Tybalt mehr und mehr auseinander. Einem Liebespaar gibt diese Welt keinen Halt, in der immer wieder Schüsse hallen und die Menschen in Kampfuniformen herumlaufen. Zudem bestehen die Gangs of Verona nicht aus halbstarken Pubis, sondern es herrscht ein Bandenkrieg zwischen düsteren, so verzweifelten wie testosterongesättigten Gestalten. Als Streitschlichter versucht sich ausgerechnet eine Autorität im Business-Anzug, ein Mann, der etwas steif wirkt, aber karrierebewusst: „Waffen weg!“, ruft – Paris!

Die Interpretation des Prinzen durch Daniel Gawlowski ist der zweite überraschende Akzent in Laura Linnenbaums Inszenierung. Vielleicht wäre der machtbewusste Mann ja doch eine gute Partie gewesen für Julia? Zumindest versucht er – anders als Julias Mutter – zu deeskalieren. Und anders als der scheue Loser-Typ in Düsseldorf wirkt er führungsbewusst und zupackend: „Ich entscheide über Recht und Unrecht!“ Doch es sind nur Kleider, die den starken Paris machen: Lächerlich wirkt er, wenn er kostümiert auf Capulets großer Fête aufläuft: mit US-Flagge auf einem albernen Hütchen, affektiert die Zigarette haltend, steif als hätte er einen Regenschirm verschluckt. Und was ist es, das ihn so steif macht? Als er gegen Ende die vermeintlich tote Julia findet, legt er seine schusssichere Weste ab. So wird er schutzlos. Der gerade Rücken ist ein schweres Erbe der Natur, wenn der Kopf dich ständig niederzieht, heißt es bei Botho Strauß: Wie ein Korsett hat die Weste ihn nicht nur äußerlich geschützt, sondern auch seinem Ego Halt gegeben. His ego had to be developed – it needed artificial support, um es präzise auszudrücken. Nach Julias Tod sind Ego und Autorität gebrochen, aber er kann endlich zu seinen eigenen Gefühlen stehen.  

Leider gelingt es nicht allen Akteuren, ihren Figuren eine derart klare Konturierung und Entwicklung zu geben. Wolfgang Rüter legt die Amme ähnlich witzig und extrovertiert an wie Karin Pfammatter in Düsseldorf; Wilhelm Eilers gibt Julias Vater als Alphamännchen mit Chef-Gehabe. Benjamin Grüter führt gelegentlich als eine Art Erzähler durch die von Laura Linnenbaum auf die wesentlichen Handlungsstränge verkürzte Geschichte und ist ansonsten mit Muslim-Bart und einer Leiche zuviel im Keller ein durchaus windiger Pater Lorenzo. Und die beiden Hauptfiguren? Manuel Zschunke und Lara Waldow, beide neu im Bonner Ensemble, spielen ihren Part recht nett, aber die Bedingungslosigkeit einer Liebe, die nur auf der Folie des Hasses entstehen kann, vermögen beide nicht deutlich zu machen. Nettes, fröhliches Mädchen trifft hübschen kraftvollen Burschen in kriegerischen Zeiten – that’s it, not more.

So bleibt als Fazit: Die Inszenierungen von Laura Linnenbaum und Bernadette Sonnenbichler gleichen sich in ihrem interpretatorischen Ansatz, aber in Bonn bleibt die jung und frisch daherkommende Inszenierung trotz Maschinengewehrfeuers im Bereich der biederen Nacherzählung. In Düsseldorf hat Sonnenbichler das Stück neu montiert und spitzt es zu, ohne es zu entstellen. Auch dort kann ein mit dem Drama nicht vertrauter Zuschauer die Geschichte ohne größere Anstrengung nachvollziehen, aber er spürt den Subtext dieser wunderbaren Liebesgeschichte. Und der handelt von Gewalt.