Übrigens …

Verbrechen und Strafe im Bochum, Schauspielhaus

Wahn und Intellekt

Der Anfang ist stark. Ungeheuerlich geradezu, schrecklich verstörend, eine polyphone Wortorgie, eine kaskadenhaft stetig mehr anschwellende Textmasse, bis hin zu vereinzelten Schreien. Was Wunder, wenn sich auf der großen Bochumer Schauspielbühne das Ensemble von Dostojewskis Verbrechen und Strafe an die Rampe stellt und minimal zeitversetzt aus dem Roman den „Traum vom Pferdchen und der Peitsche“ rezitiert. Eine Sequenz, die der Sprachwissenschaftler Fritz R. Glunk einmal den „unvergeßlichsten Alptraum der Weltliteratur“ nannte. Den das Publikum per Videoprojektion mitlesen kann.

Und so, wie das arme, alte, müde Tier im Text zu Tode geschlagen wird, zerfetzen die dort am Bühnenrand mit ihren Gerten die Bücher, als gelte es, nach der Lesung dem Autor dieses geschriebenen Grauens den Garaus zu machen. In einem kollektiven, erst allmählich nachlassenden Wahn. Die meisten Hiebe verteilt der fiebrig dreinblickende Raskolnikow, ohne Unterlass, als die anderen die Szene längst verlassen haben. Zuletzt hatte er solch’ unerbittliche Energie aufgebracht, als er die alte Pfandleiherin und deren Schwester mit der Axt erschlug.

Ein wildes, enervierendes Entree, fürwahr, und nur ein Schelm ist, wer Spöttisches dabei denkt: Lässt hier etwa ein Regisseur – in diesem Bochumer Fall Jan Klata – Dostojewskis Romanvorlage derart verbissen zurichten, weil sie ihm gehörig zugesetzt hat? Schließlich ist dieses weltliterarische Sozial- und Ideendrama, das Olaf Kröck in eine gut dreistündige Theaterfassung gegossen hat, für die Regie mindestens eine immense Herausforderung. Für Klata gilt: Nichts kommt mehr an die Eröffnungsszene heran. Am meisten noch imponiert die fuchsschlaue psychologische Trickserei, derer sich der Untersuchungsrichter Porfirij bedient, um Raskolnikow zum Geständnis zu bewegen.

Es ist ohnehin schwer, Klatas Deutung auf einen Nenner zu bringen. Einmal wird das Jahr 1866 genannt (das Datum der Romanvollendung), doch wirkt das Gesehene nicht wie eine soziale Anklage an die Verwerfungen des Zarentums. Justyna Lagowskas Bühnenbild zeigt wohl die ziemlich heruntergekommene, wüst unaufgeräumte Mansarde des Ex-Studenten Raskolnikow, mit einem Bett im Zentrum. Andererseits könnten die stachelbewehrten Balken, die diesen Raum umfrieden, auf eine Gefängniszelle hinweisen. In der aber bisweilen die Revuelichter angehen. Und das Ensemble tänzelnd parliert, disputiert. Oder gleich in wildes Zucken verfällt. Und hinten, über die Leinwand, flackern Computerspiel-Oldies, aus den Zeiten, als das Internet gerade mal laufen lernte.

So umweht diese Inszenierung oft der Hauch des Absurden, manchmal gesteigert zu Hysterie, dann wieder gestaltet als clowneske Farce. Wenn sich etwa die beiden ermittelnden Polizisten oder die unglückselig arme, schwangere Katerina Marmeladowa (Bettina Engelhardt) die rote Pappnase aufsetzen, während ihre zwölfköpfige Kinderschar als Harlekine über die Bühne wuselt. Mag sein, dass hier alle ein bisschen verrückt sind, doch Klata bleibt mehr Andeuter, als dass er eine klare Richtung vorgibt.

Im Zentrum des lauten Denkens, Debattierens und des Geschehens steht Jana Schulz in der Rolle des Raskolnikow. Sein mörderisches Tun legitimiert er mit der Idee der Überlegenheit anderen gegenüber. Doch alle Stärke verwandelt sich nach der Tat in fiebrige, angstvolle Schwäche. Kontakte zu Mitmenschen werden ihm mehr und mehr zur Qual: „Lasst mich doch allein“ fleht da einer, der sich selbst nicht entkommen kann. Jana Schulz gibt gekonnt diesen Außenseiter, pendelnd zwischen intellektueller Größe und betrübtem Einsiedlerdasein. Als wacher Geist kann nur, wie erwähnt, der Untersuchungsrichter mithalten, dem Roland Riebeling starke Auftritte verleiht.

Die meisten anderen Figuren sind hingegen eher blass gezeichnet. Roland Bayer als armer (Wodka)-Schlucker Marmeladow krabbelt von Selbstekel angetrieben durch die Szene. Ronny Miersch (Rasumichin) ist der verlässliche Freund Raskolnikows. Dessen Schwester Dunja (Simin Soraya) und Mutter (Bettina Engelhardt) geben die nervenden Verwandten im schnieken Outfit. Gerade noch rechtzeitig merken sie, dass Dunjas Verlobter Luschin ein übler Windhund ist – Daniel Stock verleiht der Figur den nötigen Zynismus. Martin Horn wiederum, in der Rolle des Swidrigajlow, gibt den schmierigen und drohenden zweiten Bewerber um Dunja, wirkt indes wenig charakterstark.

Einzig Sarah Grunert verleiht ihrer Figur, Marmeladows Tochter Sonja, die sich prostituiert, um die Familie durchzubringen, und die in tiefem Gottesglauben Lebenssinn sucht, seelische Tiefe. Ihr vertraut sich Raskolnikow schließlich an, gesteht seine grauenvolle Tat. Ihre Begegnungen sind noch einmal von starker Wirkung, im Vergleich zu mancher nur dahinplätschernden Szene.

Dostojewskis Verbrechen und Strafe in Bochum: viel Augenfutter, doch keine klare Linie. Im Programmheft finden wir expressionistische, düstere Illustrationen des russischen Plakatmalers und Zeichners Dementy Shmarinov, entstanden wohl für eine englischsprachige Buchausgabe. Wie sähe wohl eine entsprechend „schwarze“ Inszenierung aus, die als Kammerspiel auf engstem Raum abliefe? Das hätten wir gern gesehen.