Massiver Stuss
„Die Sterne. … Hängen da oben rum. Wie Kinder ohne Zukunft.“ Es waren solche Sätze voller Lakonie und Trauer, die vor dreizehn Jahren aufhorchen ließen. Anja Hillings Erstling Sterne wurde beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens ausgezeichnet, und das Stadttheater Bielefeld verhalf der heute 41jährigen Autorin im Jahre 2003 zur ersten Uraufführung. Zwei Jahre später tauchte ihr zweites Stück, Mein junges idiotisches Herz, auf dem Tableau der für den Mülheimer Dramatikerpreis nominierten Texte auf. Der Rezensent war im Jahre 2010 hingerissen von Tim Mroseks Inszenierung von Schwarzes Tier Traurigkeit an der Studiobühne Köln. Jetzt hat Friederike Heller am Theater Bonn eine Auftragsarbeit zur Uraufführung gebracht, und es scheint, als sei Hilling beim Versuch, erneut eine traurige Geschichte mit allgemeingültiger Relevanz zu erzählen, verkrampft. Alle Lakonie ist verloren; die Sätze … hängen irgendwo rum. Wie Kinder ohne Zukunft. Der Raum, in dem das Theater Bonn den Text inszenieren lässt, heißt Werkstatt. Und tatsächlich: Das Stück wirkt nicht wie sinnliche Kunst, sondern wie harte Arbeit.
Hilling hat sich der tragischen Liebesgeschichte von Camille Claudel und Auguste Rodin angenommen. Camille war zwanzig, Auguste 24 Jahre alt, als die beiden sich im Jahre 1883 in Paris begegneten. Camille hätte gern an der Kunstakademie studiert, doch weibliche Bildhauer konnte man sich seinerzeit noch nicht vorstellen. Stattdessen fand sich Rodin bereit, die junge Frau aus der Provinz zu unterrichten. Camille wurde zu seiner Geliebten, wohl auch zu seiner Muse. Die Eltern verstießen sie, als sie vom libidinösen Künstlerleben der Rodin’schen Kommune erfuhren. Camilles Arbeiten erreichten ein Niveau, das dem von Rodin wohl in nichts nachstand, aber sie fanden auf dem Kunstmarkt keine Abnehmer. Das mag daran gelegen haben, dass – siehe oben – weibliche Bildhauer nicht akzeptiert wurden, doch hatte auch Rodin kein Interesse daran, die Arbeiten der Gefährtin, die sich aus der sexuellen und beruflichen Abhängigkeit von ihm zu lösen versuchte, allzu sehr zu propagieren. Die Beziehung zwischen Rodin und Claudel gestaltete sich zunehmend schwierig; Rodin hatte zahlreiche Verhältnisse mit anderen Frauen und löste sich nie von seiner ursprünglichen Partnerin Rose Beuret. Camille erkrankte an paranoider Schizophrenie und verbrachte die letzten dreißig Jahre ihres Lebens in einer psychiatrischen Anstalt. Ihre Eltern kümmerten sich nur widerwillig und ohne Empathie. Wer je den Film von Bruno Nuytten aus dem Jahre 1989 mit Isabelle Adjani als Camille und Gérard Depardieu als Auguste gesehen hat, wird ihn nicht vergessen.
„Wie kann es sein, dass am Ende des Prozesses er zur Ruhe kommt und sie in die Anstalt?“, fragt Hilling in ihrem Stück. Claudel und Rodin sind „zwei Menschen, die sich schonungslos dem gleichen Traum aussetzen“. Dieser Traum lautet: ihre Bildhauerei zu perfektionieren. Allenfalls in zweiter oder dritter Linie: ihre Liebe zu perfektionieren – zumindest Rodins Anstrengungen blieben in dieser Hinsicht sehr überschaubar. Rodins (neben dem „Denker“) populärstes Werk steht im Pariser Musée Rodin: „Der Kuss“ ist eine lebensgroße Marmorskulptur. Ein massiver Kuss also – der massive, undurchdringliche Stein gilt Hilling als Metapher für die Arbeit und den Ehrgeiz, für den „Brocken zwischen den Liebenden“, der dem Glück im Wege steht. Marmor, Stein und Gips bricht nicht, aber ihre Liebe bricht.
Hilling hat sich dagegen gewehrt, ein Historienstück zu schreiben. Stattdessen versucht sie, das Drama über die misslungene Work-Love-Balance der beiden Künstler aus seinem zeitlichen Bezug zu lösen und in einer „absoluten Gegenwart“ zu verankern. Das macht die Angelegenheit nicht unbedingt einfacher. Wenn gegen Ende scheinbar völlig unmotiviert ein moderner Text über gesellschaftliche Missstände wie Kaufrausch, Ausländerhass und sonstige Befindlichkeiten eingestreut wird („Wir hassen ja keine Ausländer, nur die Überschwemmung unserer Jogging-Routen“), wird es ziemlich abstrus. Abstrus wie so manche Sätze, bei denen man sich fragt, wie sie durch die Kontrolle der Lektoren und Dramaturgen rutschen konnten: „Du wirst keinen Krieg beenden, wenn du nicht fähig bis, die Nähe eines anderen Menschen auszuhalten hier in dieser Teeküche“, sagt Auguste im Streit zu Camille, und wenn die über ihren Wunsch nach einer Schwangerschaft räsoniert, sagt sie: „Ich dachte kurz, es müsste schön sein, von dir aufgebläht endlich mal im Rahmen zu bleiben.“ Mal ehrlich: Wir alle verzapfen beim Ehekrach ja manches dumme Zeug, für das wir uns später schämen, aber ist Ihnen sowas schon mal eingefallen?
Auch sonst wirkt der Text über weite Strecken leblos und verschwurbelt. So reden keine Menschen, die sich hassen – und erst recht keine, die sich lieben. Es gibt in Friederike Hellers Inszenierung die lyrische Beschreibung eines Sexualakts zwischen Camille und Auguste, gesprochen hinter einem Vorhang. Der Text soll Ekstase und Genuss vermitteln, und er wird von der Pianistin Anaïs Durand-Mauptit mit entsprechender Emotion musikalisch untermalt. Doch vergebens: Selbst der Geschlechtsakt bleibt ohne Sinnlichkeit. Laura Sundermann als Camille und Bernd Braun als Auguste kämpfen mit unterschiedlichem Erfolg gegen das Papierene des Textes an. Sundermann gelingt dies besser als Braun: Sie tänzelt, macht die Bewegungen eines Boxers, stellt die Skulpturen nach, die sie selbst und Rodin entworfen haben – manche davon glauben wir sogar wiederzuerkennen. Sundermann spielt ihre Figur facettenreich, insbesondere wenn sie ihre Verzweiflung darüber illustriert, dass Auguste sie auf ein Kunstobjekt reduziert und immer weniger die Frau in ihr sieht. Allerdings hat sie auch die einfachere Rolle: Camille wirkt trotz ihrer späteren Schizophrenie geerdeter, während Brauns Rodin ein schwafelnder Theoretiker und ein mit viel Pathos agierender selbstverliebter Egomane ist – und in seiner Ich-Bezogenheit und emotionalen Kälte ein geiler Bock, der sich selbst zu einem Intellektuellen stilisiert. Einmal nur schimmern auch bei Braun echte Emotionen durch: Camilles Beziehung zu dem Komponisten Claude Debussy weckt seine Eifersucht.
Am Schluss, als Camille in der Irrenanstalt gelandet ist und die Härte und Unnahbarkeit der Mutter den Zuschauer erschüttert, gelingen dann ansatzweise berührende Szenen. Retten kann das nicht mehr viel: „Ich will außerhalb von mir was reinhauen in die Welt“, sagt die Bildhauerin Claudel. Was Hilling vor allem sprachlich rausgehauen hat in die Welt, ist: Massiver Stuss!