Französische Revolution als aktueller Polit-Thriller
Warum geht man eigentlich freiwillig in ein solches Stück? Joël Pommerats Ça ira (1) Fin de Louis ist in der französischen Uraufführung eine viereinhalbstündige Polit-Debatte, ein modernes Remake der Auseinandersetzungen zwischen den Ständen (also Klerus, Adel und Volk) rund um die französische Revolution. Am Schauspiel Dortmund hat man das Textkonvolut auf drei Stunden verkürzt. Dennoch: Braucht man das? In Frankreich wurde das (pseudo-)historische Drama als bestes französisches Stück der vergangenen Spielzeit ausgezeichnet, und tout Paris redet drüber. Es war das Stück der Stunde, denn es wurde unmittelbar nach den Attentaten vom November 2015 uraufgeführt, als das französische Volk sich mit nie dagewesener Intensität die Frage nach seiner Identität stellte. Bereits in den Jahren unter Präsident Sarkozy hatte es eine radikale Ausgrenzung der migrantisch geprägten Bevölkerung in den Banlieues von Paris und anderen Großstädten gegeben, die zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führte. Aber was haben wir mit Sarkozy und seinem eskalierenden Kampf gegen die Gosse zu tun? Wieso sollen wir ähnliche, wenngleich nicht gar so radikale politische und terroristische Eskalationen mit einer Debatte über die Französische Revolution erklären? - Solche Gedanken gingen dem Rezensenten im Vorfeld des Aufführungsbesuchs durch den Kopf, und er war skeptisch, ob Pommerats französisches Erfolgsstück in Deutschland seine Wirkung entfalten könnte. Verblüfft erlebte er im Schauspiel Dortmund ein furioses, kraftvolles Polit-Theater. Die politische Diskussion erwies sich dank vieler szenischer Ideen und ironischer Einsprengsel als ausgesprochen unterhaltsam, und das Stück beweist zeitlose Aktualität.
Kürzungen und herzhafte Regie-Zugriffe führten dazu, dass das Theater von Pommerats deutschem Verleger die gelbe Karte bekam: Die Ankündigung als „deutschsprachige Erstaufführung“ musste zurückgezogen werden; die Nutzung des deutschen Original-Titels wurde untersagt. Zeitgenössische Autoren und ihre Verleger können so humorlos sein wie die Brecht-Erben – man fasst es kaum. Vielleicht entspricht der Ton, den das Ensemble von Regisseur Ed. Hauswirth häufig anschlägt, nicht dem Ernst der Vorlage. Aber was wir sehen, kommt uns bekannt vor. Aufgeheizte und ideologisch verblendete Revolutions-Rhetorik kennen wir ebenso wie furztrockene Parlamentsdebatten. Manche Inhalte dieser Debatten auch: Am Anfang berichtet der Premierminister sorgenvoll von sinkenden Steuereinnahmen; am Ende klammert sich der nach der Revolution längst abgehalfterte König Ludwig XVI. an ein Merkel’sches „Das schaffen wir schon“, das klingt wie die Selbstermutigungs-Parolen eines Macbeth vor der finalen Schlacht, in der er sein Leben lässt. „Ça ira“ – „wir schaffen das schon“: das war der Titel eines Revolutionsliedes, das im Jahre 1789 den Sieg über die aristokratische Tyrannei und den Triumph der Freiheit versprach. „Ça ira – …: Die Adligen knüpfen wir auf“, heißt es in Dortmund. Wie wir wissen, gab es erstmal Anarchie und Blutvergießen, bevor die Tugenden der heutigen Demokratie sich durchsetzten. Der Triumph der Freiheit wurde teuer erkauft, und Rückschläge blieben nicht aus. „Wir schaffen das“ - es sage niemand, dieses Stück habe uns nichts zu sagen.
Was das Dortmunder Schauspiel uns anhand der Geschehnisse der Französischen Revolution zeigt, hat hohen Wiederkennungswert: Inhaltlich wird der Kampf um die Abschaffung von Privilegien ausgefochten – vielleicht ein wenig radikaler als wir es heute kennen, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Auch im Frankreich des 18. Jahrhunderts beginnt dies mit Parlamentsdebatten, mit Audienzen bei den Herrschenden. Dann erleben wir Ständeversammlungen, Bezirksversammlungen, Konferenzen - mit feigen Umfallern und gefährlich ideologisierten Agitatoren, mit stahlharten Vertretern der Macht sowie Wendehälsen und Opportunisten. Wir verstehen die Ängste der Zuckerbäckerin aus dem 3. Stand ebenso wie die der adeligen Madame de Lacanaux, die im Falle der Machtübernahme durch das – ungeschulte – Volk den Untergang Frankreichs befürchtet: „Wissen, Sachverstand, Kultur und Künste entstammen dem Adel und dem Klerus.“ Und wir ahnen, dass es stimmt, dass in der nachrevolutionären Anarchie zunächst die Steuereinnahmen einbrechen und in der Folge die Justiz, die Bildungsinvestitionen und das Gesundheitswesen leiden. – Und es ist 1789 wie heute: Die Oppositionellen schwächen sich durch Uneinigkeit, die Mächtigen durch Starrsinn. Mangelnde Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten verhindert, dass Lösungen gefunden werden, um die Pläne der Revolutionäre friedlich und einhergehend mit der Entwicklung des demokratischen Reifegrades der Revolutionäre umzusetzen. Meinungen beruhen auf Vorurteilen. Es gibt kein Vertrauen zwischen den Konfliktparteien, und mangels Vertrauen gibt es keine ehrliche Kommunikation. Wenn es kein Vertrauen und keine ehrliche Kommunikation in der Politik gibt, radikalisieren sich die Ränder. Das kennen wir doch? Haben wir wirklich so wenig gelernt in den letzten 230 Jahren?
Die Radikalen auf beiden Seiten greifen zu untauglichen, wenn nicht gar kriminellen Mitteln. Die Positionen verhärten sich: Madame de Lacanaux, die knallharte, kompromisslose Abgeordnete des Adels, kündigt an: „Wir werden durchgreifen, und wenn wir ganze Stadtteil dem Erdboden gleichmachen müssen!“ Da sind Aleppo und die zynische russische Syrienpolitik nicht weit, und da ist der bizarre Auftritt der Richterin Jeanine Pirro bei Fox News nicht weit: „Bomb them, bomb them, keep bombing them and bomb them again and again.“ Jung, gutaussehend, radikal: Auf Merle Wasmuth trifft dies ebenso zu wie auf Jeanine Pirro, aber Wasmuths Madame de Lacanaux wirkt souveräner und arroganter – das fasziniert. Bei den Revolutionären steht Marlena Keils Madame Lefranc für die Radikalen. Sie fordert neue undemokratische Unterdrückungsmaßnahmen: Nicht nur will sie die Wahl zur Nationalversammlung nicht anerkennen, wenn sich der Adel ihren Positionen nicht anschließt – nein: auch die mutige Zuckerbäckerin Madame Boberlé (überzeugend: Caroline Hanke), die als erste öffentlich gegen die Unterdrückung ihres Standes protestiert hatte, wird von den radikalen Revolutionären mit Gewalt daran gehindert, abweichende Ansichten zu äußern. Lefranc agiert mit ideologischem Furor und einem Hang zu Selbstjustiz und Gewalt.
Andererseits gibt es auf beiden Seiten die Umfaller: Uwe Schmieder als Monsieur Gigard ist ein schwankender Halm im Wind, obwohl er jede Position, für die er gerade argumentiert, mit Leidenschaft und Furor vertritt. Zu Beginn der milde, kompromissbereite Reformer in Reihen des 3. Standes, endet er bei Positionen der (heutigen) radikalen Rechten, bei Fremdenhass und Armen-Bashing. Björn Gabriels Dumont Brézé dagegen, ein effeminierter, arroganter Abgeordneter des Adels, wird zum opportunistischen Wendehals, als es ihm an den Kragen zu gehen droht. Er versucht sich an die Spitze der Revolution zu setzen und mit Gigard eine Phase der Restauration einzuleiten.
Das Volk sitzt zwischen uns auf den Theatersesseln und kommentiert jede Rede, jede Meinungsäußerung mit Missfallensbekundungen oder Applaus. Es putscht uns auf, es hält uns wach. Der Streit zwischen den politischen Positionen wird auf seinem Rücken austragen. Die Spielfläche schwebt einen guten halben Meter über dem Boden, und sie schwankt beträchtlich, wenn die National- oder Bezirksversammlung sich verzettelt, wenn Werte verraten zu werden drohen. Die Mitglieder des Dortmunder Sprechchors, die die Rolle des Volks übernehmen und bei ausverkauftem Haus ca. 20 % der Sitzplätze einnehmen, stabilisieren das schwankende Staatsschiff mit ihren Rücken. Aber das Volk ist auch anfällig für Populismus, für radikale Lösungen: „Jeder, der nicht so denkt wie ihr, den soll man einfach so umbringen können“, fordert der Bezirksausschussvorsitzende, und das Volk bewaffnet sich.
Als wäre das Geschilderte noch nicht spannend genug, lässt Regisseur Ed. Hauswirth es in einer heutigen, höchst realistischen Diktion spielen, die immer mal wieder in die Satire kippt. Live berichtet das Fernsehen von den Schauplätzen der Revolution in Paris, mit eingeblendeten „Breaking News“ und Interviews mit Betroffenen und Beteiligten. Wir erkennen die subtilen und weniger subtilen Methoden der Unterdrückung von politisch nicht genehmen Meinungen durch die Medien. Noch während der Kämpfe banalisiert eine Fernsehshow mit einem Liberté-Égalité-Fraternité-Ballett das Geschehen und beruhigt und beeinflusst damit die Bevölkerung. Zwischen all dem irrlichtert Ludwig XVI. hin und her, meist über Video eingespielt aus einem Nebenraum des Theaters. Es ist ein satirisches Kabinettstückchen, was Uwe Rohbeck aus der Königsrolle macht: Dieser Herrscher, der weder zum Adel noch zum Volk einen funktionierenden Kommunikationskanal unterhält und in seinem Versailler Prunkschloss zu seinem eigenen Verdruss abgeschnitten ist von der realen Welt, ist wohl tatsächlich „ein guter Mensch, großzügig zu den Schwachen, menschlich und priesterlich“, wie es der Sprechchor einmal formuliert. Aber diese Eigenschaften sind nur Zeichen seiner Überforderung, die ihn ins Privatissime flüchten lässt. Louis XVI. ist eine Witzfigur mit gutem Willen. Sein Mangel an Rückgrat macht ihn zum Loser. Die Parole „Ça ira – wir schaffen das schon“ lässt ihn zu einer tragischen Figur werden: „Fin de Louis“. On ira voir cette pièce, n’est-ce pas?
(Dietmar Zimmermann)