Hedda, ein Puppenheim
Trauermusik erklingt. Edvard Grieg, der düstere Norweger, strukturiert den Abend. Die leere Bühne ist mit schwarzen Samtvorhängen ausgeschlagen. Gleichzeitig treten alle Schauspieler aus eben diesen Vorhängen. Auch sie sind ganz in Schwarz gekleidet – der wenig seriöse Amtsgerichtsrat Brack in schwarzer Lederhose, die übrigen mehr oder weniger wie es sich auf einer Beerdigung gehört. Ein Sargwagen rollt herein. Darauf … kein Sarg, sondern ein Puppenhaus: die Villa von Jörgen und Hedda Tesman. Jörgen hatte sie einst für Hedda gekauft, damit die Tochter von General Gabler bereit war, ihn zu ehelichen. Auf dem Wagen liegt eine ganze tote Welt. Hedda, ein Puppenheim. Und Hedda, ein Totenhaus.
Die Schauspieler befinden sich in einer Art Trauerhalle. Sind es die realen Figuren aus Henrik Ibsens Drama, die von ihnen verkörpert werden? Vielleicht sind die realen Figuren diejenigen, die das Puppenhaus bevölkern. Das ist der reinste Modellbaukasten: mit exakten Replikas der Schauspieler, angeblich mit dem 3D-Drucker nachgebaut. Was auf der Bühne fehlt, ist im Puppenhaus reichlich vorhanden: Möbel, Ausstattungsgegenstände bis hin zu Tellern und Tassen und winzig kleinen Büchern. Mathias Heße, der den Jörgen Tesman spielt, stellt sein Heim detailliert und humorvoll vor. Mit einer winzig kleinen Kamera, deren Bilder an die Rückwand der Bühne projiziert werden, fährt er durch die Räume seiner Puppenstube und präsentiert Tante Julle sein Eigenheim. Tante Julle, von Ausstatterin Birgit Angele als Kreuzung zwischen Maggie Thatcher und Queen Elisabeth zur Welt gebracht, existiert nur als Puppenfigur.
Der Traum des Elefanten ist wirklich, auch wenn der Elefant ein Traum ist: Wenn die Puppenhausgestalten real sind, wer sind dann die Lebewesen, denen wir auf der Bühne zuschauen? Sind Hedda und Jörgen Tesman, sind Thea Elvstedt, Ejlert Lövborg und Amtsgerichtsrat Brack Untote, die ihr Leben im Puppenhaus nachspielen? Vieles spricht an diesem faszinierend beklemmenden Hedda-Gabler-Abend für diese Deutung – nicht nur der Aufsatz von Georg Seeßlen und Markus Metz, der im Programmzettel abgedruckt ist und der sich mit dem „Untoten“ befasst: Untotes Leben vermehre sich nicht durch „Fortpflanzung in der Zeit“, sondern durch Verdoppelungen und Serialisierung: „Wer sagt (dann noch), was Leben ist? Wer sagt, was Mensch ist? Wer sagt, was tot ist?“
Untot sein, heiße immer: „Macht abgeben und zugleich Macht schaffen.“ Das könnte ein Deutungsansatz sein für Ulrich Grebs Hedda Gabler am Schlosstheater Moers. Hedda, die schöne Dekadente, die grausame Gelangweilte: Sie lässt nicht nur ihren spießigen Provinzprofessorenanwärter Jörgen am langen Arm verhungern, sie übt auch mit geradezu sadistischer Freude Macht über die anderen Figuren des Ibsen’schen Dramas aus: über ihre sogenannte Jugendfreundin Thea, über ihren früheren Geliebten Eilert. Auch Thea hat Macht über Eilert, da sie ihn scheinbar vom Alkoholismus geheilt hat und ihn soweit diszipliniert, dass er zum wissenschaftlichen Genie heranreifen konnte. Dafür hat sie andererseits Macht ab- und ihr Leben aufgegeben. Eilert ordnet sich Thea unter – und übt doch Macht auf sie aus, sind er und sein noch unveröffentlichtes Buch doch zu Theas einzigem Lebensinhalt geworden. Selbst Tante Julle hat Macht: Ihr „Ich werde euch jeden Tag besuchen“ ist eine Drohung des Todes – für die Tesman’sche Ehe. Alle leiden bewusst oder unbewusst unter der Macht der anderen. Nur der Lüstling Brack scheint immun. Die Macht, die er auf Hedda ausübt, ist dagegen nicht einen Moment lang erträglich.
Untote sind unheimlich. Thea Elvstedt und Hedda Gabler verbreiten bereits beim ersten Aufeinandertreffen eine Atmosphäre aus Kälte, Irrsinn und Psychose. Marissa Möller gibt Thea als nervöse Psychopathin: Sie spricht unnatürlich schnell, hinter jedem ihrer Sätze steht ein Fragezeichen. Magdalene Artelts Hedda kopiert diese Sprechweise mit beißender Ironie und einer Prise Aggressivität. Hedda wird übergriffig mit einem Kuss, der einer Vergewaltigung nahekommt. Mit Heddas verschmiertem Lippenstift um den Mund sieht die Elvstedt anschließend aus wie das Opfer eines Vampirs. Hedda saugt ihre Mitmenschen aus, sie ballert mit Pistolen herum, sie weidet sich am Unglück der anderen. Und sie fordert Eilert ganz explizit und unnötigerweise zum Selbstmord auf. Großartig zeichnet Magdalene Artelt die Entwicklung Heddas von der arroganten Society-Zicke zur gefährlichen Psychopathin. Und doch bleibt diese dekadente Bestie ein männermordendes Ungeheuer, dem auch viele von uns, meine Herren, zu Füßen liegen würden. Das Verlies des Moerser Schlosses, mit dem Hedda Gabler sich bescheiden muss, ist unwirtlich und eng, doch legt Magdalene Artelt auf dem Catwalk große, stolze Gänge zurück. Heidi hätte garantiert ein Foto für sie.
Auch Eilert Lövborg ist so ein Untoter – ein Untoter mit Phantasie und Kreativität, der ein Buch über die Zukunft geschrieben hat. Patrick Dollas gibt ihn arrogant und souverän. Mit der gleichen geraden Haltung wie Hedda wappnet er sich gegen die See von Plagen, die in seiner Alkoholsucht liegen. Tesman, der das Rennen um die geilste Puppe des Städtchens gewonnen hat, weiß vom ersten Moment an, dass er ein Rennen um die intellektuellste, wissenschaftlich überzeugendste Professorenkandidatur verlieren wird. Ulrich Greb hält sich nicht lange mit den durchschaubaren Entwicklungen zwischenmenschlicher Beziehungen auf, die Ibsen mehr schlecht als recht in sein Drama einflechtet. Alle Beziehungen zwischen den Figuren sind vom ersten Moment an klar: die Rivalität zwischen Tesman und Lövborg, die immer noch lodernde Liebe zwischen Lövborg und Hedda, die Kälte und die psychotische Konkurrenz zwischen Hedda und Thea, die unlauteren Absichten des Herrn Brack im Hinblick auf seine erotischen Annäherungen und die Ausschaltung des eventuellen Rivalen Lövborg. Und so wird in Moers auch von Beginn an deutlich, dass Lövborgs Beziehung zu Thea eine reine Arbeitsbeziehung ist – keine Spur von der zarten, kaum eingestandenen Liebe, die wir in den Lesarten anderer Regisseure des Stücks zu erkennen glauben. „Kameradschaft“ ist das zwischen Eilert und Elvstedt. Da gibt es kein Vertrauen, sondern höchstens Eifersucht, die zu Hass zu werden droht.
Dass alle Beziehungen von vornherein klar zu Tage treten, schadet der Inszenierung in keiner Weise. Greb und seinem Team gelingt ein unglaublich spannender Krimi. Kein Whodunnit, sondern ein Psycho-Thriller: Immer wieder erlebt der Zuschauer Szenen, in denen ihm der Atem gefriert - als müsse er zuschauen, wie ein Vater auf einem Zug durch die Bordelle der Stadt sein Kind verliert. So definiert Lövborg den Verlust seines wertvollen Manuskripts auf der Sauftour, in die Hedda ihn hineingeredet hat. Mit Hilfe der Videoscreen schauen wir wieder ins Puppenhaus, in dem das reale Leben spielt: Dort findet eine Orgie statt wie beim späten Immendorf im Steigenberger Parkhotel – mit dem einstmals trockenen Alkoholiker Eilert Lövborg mittendrin. Hedda, längst zur Psychopathin geworden, zerstört kurz drauf das Puppenheim. Die ewige Brandstifterin setzt es unter Feuer. Der Krimi wandelt sich zum Horror- und Geisterfilm. Es ist der helle Wahnsinn, der die Figuren erfasst hat – und es ist der helle Wahnsinn, was für Bilder Greb nun schafft.
Thea aber hat das Manuskript, das sie mit Tesman wieder zusammensetzen wird. „Jetzt müssen Sie sich um Hedda kümmern, Brack, damit die sich nicht langweilt“, sagt der ahnungslose Gatte zum schmierigen Triebtäter. Der Wind pfeift ums Geisterhaus. Brack setzt Hedda eine feuerrote Perücke auf: Rote Haare, spitze Brüste – das waren die Erkennungszeichen der Hexen im Mittelalter. Hedda hat verloren. Sie wird überwältigt von den übrigen Untoten: von Jörgen, von Thea, von Brack – und von Eilert, der längst tot sein sollte. Der Schuss, mit dem Hedda sich tötet, fällt leise im Puppenhaus. Er weht hinüber aus ferner Vergangenheit. Die Untoten bleiben ungerührt. Außer Hedda, die der ewigen Hölle des Spießertums und der Erpressung durch den Amtsgerichtsrat ausgesetzt ist. Wer sagt uns, was tot ist?