Die Polizei im Assoziationsraum
Mal ehrlich, liebe Leserinnen und Leser: Wann haben Sie zuletzt etwas von Slawomir Mrozek gelesen oder gar ein Theaterstück von ihm auf der Bühne gesehen? Selbst in der Buchhandlung meines Vertrauens, die noch eine richtige Buchhandlung mit literarischem Anspruch und klarem Profil ist und damit zu einer Gattung gehört, die eigentlich seit fünfundzwanzig Jahren ausgestorben ist, kannte man Mrozek nicht mehr. In den Zeiten vor und nach dem Prager Frühling gehörte der Pole zu den literarischen Helden des Ostblocks, die mit den Mitteln des absurden Theaters Widerstand leisteten gegen die kommunistischen Diktaturen in ihren Ländern. Im Jahre 1958 war ihm mit der Polit-Satire Die Polizei der Durchbruch gelungen. Man mag die Groteske zum Genre des Absurden Theaters zählen, aber allzu viel Vorwissen ist nicht erforderlich, um sie als Angriff auf die damaligen politischen Verhältnisse in Polen zu entschlüsseln. Sie spielt in einem Staat, der sich die Loyalität und Zufriedenheit von 100 % der Bevölkerung gesichert hat. Einem Polizeistaat, in dem die Geheimpolizei gerade überflüssig zu werden droht, weil der letzte Widerständler seine Regierungskritik widerruft und zum treuen Diener des Staates wird. Im Kampf um ihre Daseinsberechtigung rekrutiert die Polizei einen neuen Widerständler aus eigenen Reihen. Was am Ende aberwitzige Verwirrungen nach sich zieht …
Der Staat, in dem diese Groteske spielt, ist schon bei Mrozek nicht im allerbesten Zustand. Bei Jo Fabian, der Polizei (ohne den bestimmten Artikel) jetzt in einer stark skelettierten, aber hemmungslos überzeichneten Fassung am Theater an der Ruhr in Mülheim zeigt, hat der Staat vollkommen abgewirtschaftet. Es regnet durch, der Boden in dem Einheitsraum, der vorwiegend als Stasi-Büro fungiert, ist so feucht, dass aus ihm zwei Seerosen und ein kleiner Farn sprießen. Wand und Fenster hängen schief im Raum, Bilderrahmen ohne Bilder werden falsch herum montiert. Theaterleiter Roberto Ciulli spielt einen Polizisten, der gelegentlich eine altmodische Fernseh-Antenne mit sich herumschleppt: Überwachung herrscht noch in der ärmsten Hütte. Gleichzeitig soll die Antenne wohl das Strom- und Telefonnetz stabilisieren. Die sechs Schauspieler, die sich mit Mrozeks Stück beschäftigen, befinden sich noch in einer Probensituation; immer wieder steigen sie aus dem Stück aus. Das wird ohnehin nur in Fragmenten angespielt. Fabian konzentriert sich in seiner Inszenierung weniger auf den Inhalt als auf die Absurdität und das Kafkaeske, die in Mrozeks Stück liegen. Er überdreht die Absurdität ins Surrealistische und schafft einen atmosphärischen Assoziationsraum, in dem die Schauspieler auch während der Aufführung nach Herzenslust improvisieren dürfen. Was Mrozek zur Kenntlichkeit überspitzt hat, wird bei Fabian so zu einem kaum vollständig entschlüsselbaren Gesamtkunstwerk aus Sprache, Sound und surrealen Einfällen.
Die Schauspieler nutzen die ihnen zugestandenen Freiheiten weidlich – manchmal zu harmlosen Scherzen, manchmal zu Zitaten aus der großen Literatur: Roberto Ciulli zitiert Dante, und wir sind sicher, dass er die richtigen Stellen herausgesucht hat. Beweisen können wir es nicht, denn er spricht Italienisch: Atmo ist wichtiger als Verständnis. Die charismatische Petra von der Beek gibt höchst überraschende Statements an einem an der Rampe platzierten Mikrofon ab, die wie Störer in der eher beiläufigen, relaxten Probensituation wirken, aber sofort die volle Aufmerksamkeit des Publikums erhalten: „Wussten Sie, dass die Menschen eine 60%ige genetische Übereinstimmung mit der Banane haben?“ Dass sie bei den übrigen 40 Prozent nicht allzu viel in die Kiste mit den dem dummen Brot gegriffen haben kann, beweisen ihre hellsichtigen Einwürfe, die unmittelbar auf die politische Situation im Jahre 2016 zielen: Für die Suche nach Widerständlern und Terroristen zur Existenzsicherung der Polizei hat sie „eine Idee: Import.“ Es gebe schließlich „unbegrenzte Flüchtlingsströme, in denen kleine Boote mit Flüchtlingen unbemerkt die Welt bereisen.“ Das hat einen Biss, wie man ihn in Mrozeks Original-Text aus dem Jahre 1958 allenfalls findet, wenn die Qualität der Eisenbahn gelobt wird (die immerhin „als Erscheinungsform bei uns existiert“). Und vergeblich sucht man dort so dystopische Sätze wie: „Die totalitären Zeiten liegen nicht hinter uns. Sie kommen erst.“ Wenn von der Beek dieses Zitat des deutsch-britischen Soziologen Ralf Dahrendorf ins Mikro raunt, denkt man unwillkürlich denkt man an Erdogan und Putin, an Mro?eks Landsmann Jaroslaw Kaczynski oder auch an manche Rising Stars in der politischen Landschaft gefestigter Demokratien: an Marine Le Pen, Donald Trump oder manche Gestalten von der AfD. Und fürchtet, dass Frau von der Beek keine Dystopie entworfen, sondern eine illusionslose politische Bestandsaufnahme verkündet hat. Kurz zuvor hatte das Team Einstein zitiert: man müsse nur in die Vergangenheit zurückblicken, dann sehe man unsere Zukunft ...
Doch solche aktuellen politischen Bezüge sind eher die Ausnahme in Fabians Inszenierung. Falls jemand das als Defizit der Aufführung kritisieren sollte, lacht das Team diese Kritik einfach weg: „Sie werden sich fragen, was das mit unserer heutigen Welt zu tun hat“, fragt Ciulli mitten in der Aufführung in den hell erleuchteten Saal. „Die Frage bleibt im Raum. Ich bleibe im Dunkeln.“ Bilder, die den totalitären Staat bezeugen, kristallisieren sich dagegen häufiger aus dem absurden Geschehen heraus: Petra von der Beek lauert mit dem Fernglas und dem Notizbuch über der Zimmerwand, Ciulli sitzt mit Kopfhörern am Tisch. Und selbstverständlich wird im Überwachungsstaat gefoltert, auch wenn es keinen Widerstand mehr gibt: ganz subtil mit der Nagelfeile bei der Maniküre. Auch die Musik ist nicht immer, aber manchmal entschlüsselbar: Mehrfach wird Radioheads „Burn the Witch“ eingespielt: „Burn the witch / we know where you live“.
„Stay in the shadows / Cheer at the gallows / … / This is a low flying panic attack.” Perfekt scheint der Text des Radiohead-Songs zur Inszenierung zu passen, in der der Polizeipräsident sich auch schon mal halbherzig an der Lampe aufzuhängen versucht. Aber bei Radiohead heißt es auch: „Abandon all reason.“ Wenn sich die großartige Dagmar Geppert zur Meerjungfrau wandelt oder mehrfach ein „Gesegnetes Osterfest“ wünscht, ist auch der Rezensent mit seiner interpretatorischen Phantasie am Ende. Aber das macht nichts: Denn die manchmal geradezu elegischen absurden Bilder, die vor allem zu Beginn des zweiten Akts dominierenden Szenen der Nutzlosigkeit und der Leere vermögen immer wieder gefangen zu nehmen. Insgesamt allerdings mäandert der Abend allzu sehr zwischen den heterogenen Einfällen des Teams hin und her, so dass sich der Sog, den Fabians Bilder- und Körperwelten in Tschechows Auf der großen Straße am gleichen Haus entwickelten, diesmal nur ansatzweise einstellte. Dennoch: ein interessantes Experiment mit einem lange vergessenen, zu Recht wiederentdeckten Text.