Der Baumeister und der Troll
„Ist es wahr, dass mein Baumeister höher baut als er steigen kann?“, fragt Hilde Wangel. Unbewusst hat sie damit die ganze Wahrheit über Baumeister Solness ausgesprochen. Halvard Solness baut nicht nur hohe Türme, bei denen ihn der Schwindel erfasst, wenn er sie erklimmen soll. Auch im Leben stapelt Solness zu hoch. Und darum hat er Angst. Des Baumeisters Angst hat vielfältige Ursachen: Es ist die Angst vor dem Sturz vom Podest, auf das ihn die kleinbürgerliche Gesellschaft der norwegischen Provinz in Bewunderung seiner Villen- und Turmbauten gestellt hat, es ist die Angst vor der Jugend, die im Begriff ist, ihn im Hinblick auf Kraft, Kreativität und sexuelle Attraktivität zu überholen, es ist die Angst vor dem Verlust von Einfluss, und vielleicht es ist auch die Angst vor der Strafe Gottes für eine – nur eingebildete? - Mitschuld am Tod seiner beiden Zwillingssöhne. Diese sind im Alter von wenigen Wochen an den Folgen eines Brandes im Elternhaus seiner Frau gestorben. Seine Ehe ist seitdem vor die Hunde gegangen. Doch beruflich und finanziell hat Solness von dem Feuer enorm profitiert – der Brand „hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt kommen“ können.
Solness, der gerade an einer neuen Villa zur Eigennutzung baut, hat sich längst ein anderes Haus konstruiert: eine eigene Welt, in der er auf dicken Macker macht und die er von den echten und vermeintlichen Bedrohungen von außen abzuschotten versucht. Doch die Fassade dieser Welt, in die sich Solness geflüchtet hat, ist brüchig. In Esther Hattenbachs Inszenierung am Rheinischen Landestheater Neuss sehen wir von außen hindurch: durch eine dünne, transparente Plastikfolie. Wir sehen Joachim Berger als arroganten, unbarmherzigen Despoten. Sein Solness ist ein Macho mit einer nicht unerheblichen Rest-Eleganz. Mit grauem Jackett über nacktem Oberkörper macht er auf jugendlich; seinem Angestellten, dem schüchternen, aber hochbegabten technischen Zeichner Ragnar, verbaut der Baumeister brutal die Karriere. Seine psychisch gestörte Frau Aline macht er nieder und weist ihr ihren Platz als Dienerin ihres Herrn zu. Ein offensichtliches Verhältnis mit seiner blutjungen Buchhalterin und Assistentin Kaja sucht er kaum zu verschleiern. Kaja ist die Verlobte Ragnars. Doch sie himmelt Solness an.
Das ist die Außensicht. In dieser Welt hinter der Plastikfolie hat sich Solness mehr schlecht als recht eingerichtet. Kritik lässt er nicht zu; von der Außenwelt versucht er seine Psyche abzuschirmen. Denn die Angst des Hochstaplers manifestiert sich auch in Wahnvorstellungen. Doch dann erscheint Hilde Wangel: kokett, heutig, und mit vermeintlichen Ansprüchen an – oder sollten wir besser sagen: auf den Baumeister. Sie reißt die Folie ein, hinter der sich Solness und die anderen versteckt haben. Mit Hilde bricht die reale Welt in das Leben ein, und reale Welt bedeutet Unordnung. Reale Welt ist immer Unordnung: einstürzende Neubauten, tote Kinder, pädophile Männer, Feuersbrünste. Exakt heute vor zehn Jahren hat der Baumeister der kleinen Hilde ein Königreich versprochen, und jetzt will sie es sich abholen. Solness, der heute die 20jährige Kaja verführt, konnte damals der 13jährigen Hilde nicht widerstehen. Und die ist nun gekommen, um sich zu nehmen, was ihr vermeintlich zusteht. Sie scheint ganz patent, aber ein bisschen durchgeknallt. Ein bisschen nur? Dieser Kobold ist gefährlich verrückt.
Esther Hattenbach schreibt, sie hoffe mit ihrer Lesart die Behauptung Ibsens zu widerlegen, die ganze Menschheit sei missglückt. Ihr Vorhaben scheitert, denn ihre Inszenierung belegt: Die ganze Menschheit ist verrückt. Die unter der Knute des Baumeisters stehenden Figuren bewegen sich in ruckartigen, stilisierten Choreographien. Da ist nichts mehr normal, da ist nichts mehr natürlich – da drücken sich seelische Deformationen aus. Besonders ausgeprägt zeigen sich diese bei Aline: Die großartige Hergard Engert wirkt zeitweise wie eine Marionette, geformt von den (seelischen) Püffen, Stößen und Prügeln, die der Baumeister ihr verpasst, und psychisch zerstört von den Schicksalsschlägen, an denen sie sich selbst die Schuld gibt. Für kurze Momente brechen sich Eifersucht und Wut Bahn, doch sofort zieht sich Aline wieder zurück in ihr unterwürfiges, verkrampftes Pflichtbewusstsein. Der Blick auf das innere Ungleichgewicht des Baumeisters dringt in tiefere Schichten der Psyche ein: Solness glaubt, dass sich Wünsche und Gedanken materialisieren können. So geschah es, als er Kaja kennenlernte und diese ungefragt ab dem nächsten Tag bei ihm zur Arbeit erschien; so geschah es, als der Brand ausbrach, in dessen Folge er reich wurde, aber seine Kinder starben. Solche Menschen sind anfällig für Wahnvorstellungen. In der norwegischen Provinz heißt das: für Trolle und sonstige Fabelwesen. „In Ihnen steckt auch ein Troll, wie in mir“, sagt Solness zu Hilde, deren unwiderstehlichen Trieb, ihn zehn Jahre nach dem fatalen Kuss beim Richtfest der Kirche von Lysanger zu besuchen, er ebenfalls auf seine (längst vergessenen) geheimen Wünsche zurückführt.
Bei Ibsen aber – und nicht nur im Baumeister Solness - resultieren unwiderstehliche Triebe meist aus unterdrückter Sexualität. Natürlich ist des Baumeisters Ehe auch in sexueller Hinsicht erkaltet. Das Auftauchen von Hilde und die bevorstehende Hochzeit von Kaja mit ihrem Verlobten werfen Solness im Hinblick auf seine Beziehungen zum anderen Geschlecht in Verwirrung. Im Halbdunkel, im Zwielicht zwischen Hirngespinst und Wahrheit, sehen wir in einer großartigen Choreografie Kaja und Ragnar beim Liebesspiel, Doktor Herdal bei einer Art einsamem Luft-Sex – und Aline, die in einem Akt der Verzweiflung ihren Mann zu verführen versucht. Der lässt sich drauf ein – und scheitert. Alle sind einsam: Solness, der noch die Augen davor verschließt, Aline, der Doktor - nur Kaja und Ragnar haben noch eine kleine, aber brüchige Chance auf Zweisamkeit, die bald zerstört werden wird. - Die Musik von Johannes Bartmes evoziert in den Momenten, in denen Solness von seinen Hirngespinsten bedrängt wird, die Vorstellung nordischer Geister. Philipp Alfons Heitmann, der nicht nur den Doktor Herdal spielt, sondern während der gesamten Inszenierung auf der Bühne hockt und immer wieder einem gelben Plastikschlauch eine mysteriöse Minimal Music entlockt, schrammelt umso heftiger auf seinem Schlauch, je mehr Solness vom Übersinnlichen bedrängt wird. Die Gespenster aus Halvards Leben drücken sich dann an der Wand lang: Kaja, Ragnar häufig mit ihr, der Doktor, gelegentlich Aline.
Auch Hilde ist einsam. Vor allem aber, so mag man die Inszenierung von Esther Hattenbach weiterdenken, ist sie durch die im Kindesalter erfahrene unbotmäßige Annäherung des Baumeisters geschädigt. Ein Katastrophen-Junkie mit Lust am Untergang war sie wohl schon vor zehn Jahren. Schon damals hatte sie die Phantasie vom Absturz des Baumeisters und fand das alles „schrecklich … spannend“. Und jetzt? Abgründe tun sich auf hinter der frischen, koketten Fassade des Mädchens, das Anna Lisa Grebe mit zunehmender Intensität verkörpert. Hilde ist ein Troll. Irgendwann taucht das züchtig frisierte Mädel mit wilder, ungebärdiger Lockenmähne auf. Ihre Verrücktheit ist gefährlicher als die von Solness und Aline. Und tückischer: Hilde ist besessen. In Hilde steckt ein Troll – Halvards Troll. Auch sie, die im Alter von dreizehn erste erotische Erfahrungen machen musste, hat sowohl offene als auch verdrängte sexuelle Phantasien. Sie will ihren Baumeister wieder steigen sehen so hoch wie er bauen kann. Höher als er aushalten kann. Lebensgefahr wird zum erotischen Faszinosum. Luftschlösser will sie bauen mit „ihrem“ Baumeister, gebaut aus Liebe und aus Schönheit. Doch Luftschlösser tragen nicht. Der Troll spielt tödliche Streiche. „Halleluja, der Turm stürzt ein“, skandiert das gesamte Ensemble. Halvard Solness, der nie schwindelfrei war, war noch einmal hochgeklettert, um den Richtkranz aufzuhängen. Er stürzt, und Hilde sinkt verzückt zu Boden: „Schrecklich … schön!“
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