Schaffen wir es wirklich?
Der gerne mäkelig zitierte Ausspruch Angela Merkels zum gegenwärtigen Flüchtlingsproblem („Wir schaffen es“) steht in krassem Gegensatz zum Titel eines Romans von Shumona Sinha. Erschlagt die Armen heißt er heißblütig aggressiv, wurde 2011 veröffentlicht und kostete die Autorin ob seines vorwurfsvoll harschen Tonfalls die Tätigkeit als Dolmetscherin bei der Pariser Asylbehörde. Selbst der Ausspruch der Bundeskanzlerin lässt die Vermutung zu, dass es in diesem Bereich Überforderungen gibt; Shumona Sinha fasst das jedoch ganz krass in persönliche Worte („Lügenfabrik“ u.a.). Sie hat ihren Roman, wie sie in einem Gespräch mit „Le Monde“ äußerte, geschrieben „wie man ausspuckt“. Eine verbale Eruption also, die sie nicht zurücknehme, heute nur vielleicht etwas „weniger grausam“ formulieren würde. Dass der Roman auf ein gleichnamiges Prosagedicht von Charles Baudelaire zurückgreift, ist eine literarische Pointe, mehr allerdings kaum.
Überdies ist der Roman, den die Autorin übrigens nicht als „Gesinnungsaufsatz“ gelesen haben möchte, weder Kommentar noch Reflexion zur aktuellen Flüchtlingsproblematik. Bei ihr stammen die Exilwilligen auch nicht aus Syrien oder anderen Ländern des Nahen Ostens, sondern wie sie selbst aus Indien. Sie flüchten nicht wegen Bedrohung von Leib und Seele, sie drängt einfach die ganz banale Sehnsucht nach einem besseren Leben. Das reicht den Einwanderungsbehörden als Grund freilich nicht aus, sie fordern für eine Aufenthaltsgenehmigung gewichtigere Argumente.
So bildeten sich, wie Shumona Sinha in ihrem Job schon bald merkte, bei den Informationsgesprächen regelrechte theatralische Farcen heraus. Die Antragsteller schwätzten das Blaue vom Himmel herunter, erfanden dramatische Schicksale, welche nicht den Tatsachen entsprachen und sorgten mit rechtzeitig geriebenen Zwiebeln für effektvolle Tränenströme. Irgendwann war Shumona Sinha dieses Possenspiel leid. Als bei der Fahrt in einer dicht gefüllten Straßenbahn ein Antragsteller auch noch körperlich aufdringlich wurde, hieb sie ihm eine zufällig mitgeführte Flasche über den Kopf. Natürlich musste sie sich bei der Polizei rechtfertigen, und so wurde aus der Helferin eine Angeklagte. Diesen Vorgang und noch andere schildert Shumona Sinha in ihrem Roman mit rabiater Kompromisslosigkeit, wobei sich – hier kommt der indische Background erneut und verstärkend ins Spiel – auch Wut über die in ihrem Lande herrschende, erniedrigende Einschätzung der Frau Bahn bricht.
Trotz dieser Akzentuierung lässt sich der Roman durchaus auf die heutige Flüchtlingssituation projizieren: Dass bei der (freilich zwingend notwendigen) Anwendung kalter Regularien durch die Behörden Ungerechtigkeit nicht ganz ausbleiben kann, versteht sich. Die namenlose Protagonistin bei Shumona Sinha steht, zu neutraler Loyalität nach beiden Seiten und zu ausgleichender Freundlichkeit verpflichtet, zwischen den „Fronten“. Mit der Flaschen-Attacke verschafft sie sich Luft.
Eine Bühnenaufführung kam gerade erst (Mitte September) am Hamburger Thalia-Theater heraus. In einer Rezension war zu lesen, dass Regisseurin Anne Lenk die Szene mit der Flasche nahezu realistisch anlegte (das Bühnenbild suggerierte die Enge in der Metro). Am FWT in der Kölner Südstadt, wo man übrigens eine hauseigene Textfassung bietet, schiebt Regisseur Daniel Kuschewski seine drei Darsteller fast wie auf einem Schachbrett hin und her. Das Abstrakte seiner Inszenierung wird von Thomas Unthans Ausstattung unterstrichen, welche sich (nicht wirklich sinnerhellend) auf verkabelte Lautsprecherboxen beschränkt, was durch akustische Infiltrationen hin und wieder schwach legitimiert wird. So eindringlich Nina Karimy (warum eigentlich in einem goldglitzernden Kleid?) als zentrale Akteurin auch wirkt– ihr Spiel verliert sich immer wieder im choreografischen Spinnennetz der Regie. Auch ohne die Hamburger Produktion aus eigener Anschauen zu kennen, scheint für das FWT zu gelten, was in einer „Nachtkritik“ über die Uraufführung zu lesen war: „So eindringlich Sinhas Originaltext sein mag, auf der Bühne verliert es an Wucht.“ Das Kölner Premierenpublikum, erkennbar durchsetzt von Freunden des Hauses, spendete nach 75 pausenlosen Minuten allerdings begeisterten, lautstarken Beifall.