Heißes Eisen
Das Justizdrama Terror von Ferdinand von Schirach wurde bislang von mehr als vierzig Bühnen gespielt (Doppel-Premiere am 3. Oktober 2015 am Deutschen Theater Berlin und am Schauspiel Frankfurt). Es gutes Jahr später war das Stück auch im Fernsehen zu erleben (ARD, ORF, SRF), wobei der erweiterte Titel Terror – Ihr Urteil sogleich auf die Besonderheit dieser Präsentation hinwies. Das TV-Publikum, als Schöffengericht angesprochen, war aufgefordert, per Stimmabgabe über Schuld oder Unschuld des Angeklagten Lars Koch zu befinden.
Dieser arbeitet als Luftwaffenmajor bei der Bundeswehr, zuständig nicht zuletzt für besondere Krisensituationen. Eine solche ist (fiktiv) gegeben, als ein von Terroristen entführtes Flugzeug mit 164 Insassen Kurs auf ein Fußballstadion nimmt mit dem Ziel, die dort anwesenden 70.000 Zuschauer auszulöschen. In der kurzen Zeit, welche ihm zu überlegen bleibt, entschließt sich Koch, die gekaperte Maschine abzuschließen, damit diese ihr Ziel nicht erreicht.
Nach dem Buchstaben des Gesetzes ist dies als Mord zu bewerten. Vor Gericht gestellt rechtfertigt der junge Major seine Tat mit der Schnelligkeit, in welcher eine Entscheidung getroffen werden musste und – noch gravierender – mit der zahlenmäßigen Abwägung von Menschenleben. Die Staatsanwältin pocht auf bestehende Paragraphen als Basis einer unverzichtbaren Moralordnung und bedrängt den Angeklagten zusätzlich mit der Frage, ob er seinen Schuss auch dann abgegeben hätte, wenn er Frau und Kind in der Maschine gewusst hätte. Solches Insistieren wird vom Verteidiger zurückgewiesen. Weiterhin stellt er die „akademischen“ Vorschriften infrage, welche keinen Spielraum lassen für individuell verantwortliches Handeln in Extremsituationen.
Der heute 52jährige Ferdinand von Schirach ist Strafverteidiger (u.a. in Sachen Günter Schabowski und Klaus Kinski), hat sich in letzter Zeit aber vermehrt schriftstellerisch betätigt, beginnend 2009 mit Kurzgeschichten unter dem Sammeltitel Verbrechen. Auch für Schuld (2010), Der Fall Collini (2011) und Tabu (2013) zog er Erfahrungen aus seinem Berufsleben heran. Dann folgte sein erstes Theaterstück Terror. Es gab viel Zustimmung, freilich auch die eine oder andere negative Reaktion. Eine Leserzuschrift in der Süddeutschen Zeitung formulierte es so; „Wer Rechtswidrigkeit und Schuld so verheerend durcheinander bringt, sollte wahrlich keine Aufklärungsstücke über unzureichende Strafrechtsdogmatik verfassen.“
Dieses abwertende Urteil ist nicht ganz nachzuvollziehen. Auch bei der Aufführung im Kölner Theater der Keller war (in der zweiten Vorstellung) zu spüren, dass das geschilderte moralische Dilemma den Zuschauern (viele junge Leute) an die Nieren ging. Selten erlebte man vor Ort eine derart „stille“ Aufführung. Wie auch anders? Zwar hat der internationale Terror sogar schon in Deutschland Einzug gehalten, aber im Vergleich zu Fernost und anderswo lebt man hierzulande immer noch auf einer Insel der Glückseligen. Die Vorstellung, dennoch einmal in eine Situation zu geraten wie in Terror geschildert, wird einem durch das Theaterstück beklemmend suggeriert – und das macht nachhaltig betroffen.
Schirach baut sein Theaterstück klar auf. Die Struktur entspricht eins zu eins einer Gerichtsverhandlung, was per se spannend ist: Einem Regisseur ermöglicht das aber nicht eben viel Spielraum. Heinz-Simon Keller lässt seine Darsteller also mit dem Gesicht zum Publikum auf Stühlen Platz nehmen, im Hintergrund sitzt hinter einer metallisch schimmernden Podiumswand der Vorsitzende (souverän, als habe er diesen Beruf ausgeübt: Josef Tratnik).
Die Verhandlung läuft ab wie ein realer Prozess, „aufgelockert“ durch einige eher entbehrliche Momente wie die Verspätung des Verteidigers. Dann die gerichtstypischen Förmlichkeiten, denen die Staatsanwältin (überlegen: Susanne Seuffert) etwas mehr nachkommt als der Verteidiger (Hendrik Vogt), welcher in seinem Plädoyer mehr persönliche Hitzigkeit spüren lässt. Der Dialog zwischen den beiden Kontrahenten wirkt in Kellers Regie pointiert und dramatisch zugespitzt. Und Holger Stolz (Berufskollege des Angeklagten) spielt seine zunehmende Verunsicherung sehr dezidiert aus. Auch Matthias Brüggenolte als Koch gelingt es, Überzeugung und Zweifel auf einen Nenner zu bringen.
Nicht ohne Kloß im Hals verfolgt man die Aussagen von Franziska Meier, Frau eines der von Koch abgeschossenen Flugzeuginsassen (intensiv ohne Plakativität: Tatjana Polozcek). Per SMS informierte er sie von der gefährlichen Situation, dennoch hoffend, mit anderen Mitreisenden den die Maschine steuernden Terroristen überwältigen zu können. Dann Funkstille. Auf einem langen Tisch mit Überresten aus dem zertrümmerten Flugzeug findet Frau Meier später nur noch einen Schuh ihres Gatten. Bei der Beerdigung wird ein leerer Sarg ín die Erde gelassen. Als das allgemeine Urteil den Freispruch des Angeklagten verkündet, verlässt sie türenschlagend den Saal.
Hier nun ist eine gewisse Problematik von Schirachs Drama anzusprechen. Das Publikum wird zu Richtern aufgerufen, soll über eine heikle Schuldfrage abstimmen Was 1957 in Sidney Lumets Die zwölf Geschworenen auf Filmlänge gedehnt wurde, geschieht jetzt gerafft in wenigen Minuten.
Auf die Fernsehsendung (mit anschließender Live-Diskussion bei „Hart aber fair“ mit Frank Plasberg) reagierte eine Zeitungszuschrift wie folgt: „Ein Akt der fahrlässigen Simplifizierung einer hochkomplexen Fragestellung im Gewand pseudo-demokratischer Mitsprache. In der Tat billiger und leider auch gefährlicher Populismus.“ Dem muss man so radikal nicht zustimmen, ganz ist dieser Einwand allerdings nicht abzuweisen.
Auch in Köln wird abgestimmt, Wie bei der TV-Ausstrahlung votierten in der hier beschriebenen zweiten Vorstellung die meisten Besucher für eine Freisprechung Kochs. In der Premiere war es umgekehrt, ein Beweis, wie moralisch zwiespältig sich die geschilderte Situation bietet. Ausdiskutiert ist das heikle Thema wohl kaum. Es bleibt nunmehr abzuwarten, ob Ferdinand von Schirach demnächst mit einem neuen Bühnenstück nachlegt.