Übrigens …

Ibsen: John Gabriel Borkman und Ibsen: Peer Gynt im Studiobühne Köln

Bankrott im Rasti-Land, dement in der Wüste

Es ist 20.00 Uhr, und wir sind im Theater. Das zumindest ist Realität. Drei Jahre nach der Premiere am Theaterhaus Hildesheim sehen wir Markus&Markus in „Ibsen. John Gabriel Borkman“, dem ersten Teil ihrer sogenannten Ibsen-Trilogie. Zu dramatischer Film-Musik klingen vom Band die Sätze: „Wenn die Realität zur Fiktion wird, wird die Fiktion zur Realität. Das ist das Ende.“ Das sind Sätze, die eigentlich perfekt zum dritten Teil der Trilogie passen. Jetzt aber liest Markus Schäfer erst einmal einen Schriftwechsel mit Kampnagel Hamburg vor. Die Gruppe stellt der renommierten Produktionsstätte für Freie Theater das geplante Projekt vor: Ibsens Dramen und die Wirklichkeit. Kampnagel warnt und verweigert die Unterstützung. Doch der Schriftwechsel wirkt eigentümlich. Markus Wenzel tanzt die Briefe. Das Publikum lacht. Und weiß nicht: Was ist Fiktion, was ist Realität?

 An der Studiobühne Köln zeigten Markus&Markus ihre komplette Ibsen-Trilogie an drei Abenden. Mit dem mittleren der drei Stücke war ihnen im Jahre 2015 ein Coup gelungen, der sie ins Rampenlicht des überregionalen Feuilletons katapultiert hatte. Ibsen: Gespenster  war ihr Stück über Sterbehilfe. Die beiden Markusse hatten die hochsympathische Margot aus Düsseldorf auf dem Weg in den Tod begleitet – bis in die Schweiz, wo sie von einer Sterbehilfeorganisation die tödliche Spritze bekam. Sie hatten noch den Moment ihres Todes filmisch dokumentiert und auf die Bühne gebracht. Markus&Markus hatten einen vollkommen neuen, durchaus provokativen Beitrag zur Sterbehilfe-Debatte geleistet und uns zu tagelangen Diskussionen über das Thema angeregt. Gleichzeitig hatten sie uns emotional erschüttert, wie dies kaum je einem Theaterstück gelungen ist. theater:pur hatte allerdings auch festgestellt: „Die schauspielerischen Fähigkeiten der beiden Performer sind begrenzt“. Man hätte es drastischer ausdrücken können: Ihr darstellerisches Talent bewegte sich im Bereich des Dilettantismus.

Mit diesem Dilettantismus spielen Markus&Markus auch in den beiden übrigen Teilen ihrer Trilogie. Lauscht man den Kommentaren der beiden Markusse, wenn sie aus ihrer Geschichte aussteigen und die Theatersituation reflektieren, ist man geneigt zu glauben: Die beiden wissen, dass sie nichts können. Dass sie, um Wirkungskraft zu erzeugen, angewiesen sind auf ein interessantes Thema, das im besten Falle unter den Zuschauern gesellschaftspolitische oder ethisch-moralische Diskussionen auslöst. Und dass sie angewiesen sind auf starke Protagonisten aus dem echten Leben, die dieses Thema qua persona verkörpern und die ausschließlich in den zahlreichen Filmaufnahmen auftauchen. In dieser Hinsicht war Margot, in die sich jeder Zuschauer post mortem verliebt, unübertrefflich.

Jetzt begegnen wir dem namenlosen John Gabriel Borkman, einem Bankrotteur und Finanzbetrüger, sowie dem dementen Herbert, der Hauptfigur aus dem dritten Teil der Trilogie: Ibsen: Peer Gynt. Markus&Markus haben ein Herz für Außenseiter der Gesellschaft, und offensichtlich gelingt es ihnen leicht, das Vertrauen dieser Außenseiter zu gewinnen. Ihr Borkman, zuerst Steiger, dann erfolgreicher Betreiber von Bergwerken, heuerte nach der Stilllegung des letzten Eisenerz-Bergwerks im Großraum Salzgitter bei Carsten Maschmeyers umstrittenem Finanzdienstleister AWD an und arbeitete sich dort zum Ausbilder und Einsatzleiter einer Drückerkolonne hoch. Wegen Betrugs wurde er zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt – und tat anschließend, was Ibsens Bankdirektor Borkman auch tat: Er zog sich verschämt und verbittert aus der Öffentlichkeit zurück und vermied jeglichen menschlichen Kontakt. Markus&Markus zeigen Bilder von einem leicht verwahrlosten Mann mit verrotteten Zähnen und von seiner vermüllten Wohnung voller Stockflecken, und diese Bilder sind so erschreckend, dass man sich fragt: Was ist Fiktion, was Realität? Den Borkman jedenfalls gibt es, und Markus&Markus holen ihn aus seiner Isolation: Sie räumen die Wohnung auf, sie gehen mit ihm zum Friseur und zum Zahnarzt, sie bringen ihn wieder unter Leute. Seine Re-Sozialisierung erfolgt wie bei Kindern: Er fährt mit Markus&Markus in den Freizeitpark Rasti-Land. Am Ende – und das ist der berührendste Moment des Abends – betritt John Gabriel Borkman persönlich mit unsicherem Schritt das Theater und setzt sich auf das Sofa in dem seinem inzwischen aufgeräumten Wohnzimmer nachempfundenen Bühnenbild. Stumm. Aber: Resozialisierung geglückt.

Der Protagonist von Ibsen: Peer Gynt ist Herbert. Ein ehemaliger Bäcker – vielleicht. Ein ehemaliger Soldat – vielleicht. Ein ehemaliger Frauenheld – wahrscheinlich. Vater von … tja: neun Kindern? Gibt es diese Kinder überhaupt? Jedenfalls hat er keinen Kontakt mehr zu ihnen. Weil sie „im Osten“ sind. Zwischen Herbert und seinen Kindern liegt eine Mauer. Die Mauer, die einst zwischen beiden deutschen Staaten existierte? Die Mauer, die in Herberts Kopf existiert? – Wir werden es nie erfahren. Denn Herbert ist dement. Markus&Markus versuchen, ihn ein Stück in die Welt zurückzuholen - durch ein Theaterspiel. Durch „Peer Gynt“: „Was soll ich denn tun“, fragt Herbert, der „gerne helfen“ will, und die Performer antworten: „Ganz du selbst sein“. Herbert antwortet ungerührt: „Das bin ich eigentlich immer.“ Bei Ibsen könnte Peer Gynt dem Tod von der Schippe springen, wenn er jemals „er selbst“ gewesen wäre, doch Ibsens Peer ist sich nur selbst genug. Auch Herbert fragt später noch einmal nach: „Was heißt’n das, immer du selbst gewesen?“ Markus&Markus werden es für ihn entscheiden – und das ist eine der problematischen Erkenntnisse beim Besuch dieser Aufführung. Herbert aber hat luzide Momente in seiner Demenz, und wunderschöne Momente bescheren uns Markus&Markus in diesen filmisch aufgezeichneten Gesprächen.
Markus&Markus versuchen, „Herberts Mauer einzureißen“, packen ein Päckchen für seine Kinder (Adresse: „Osten“), suchen im Garten des Pflegeheims nach einem Schatz, der aus den von Herbert permanent gesuchten Haarbürsten besteht, spielen mit dem Spielzeughund, den zu behüten Herbert als seine wichtigste Aufgabe ansieht. Herbert taucht im Sandkasten auf, neben einem Kamel und dem geschenkten Hund – Peer in der Wüste, Peer im Pflegeheim. Dieser Umgang mit Herbert weckt ambivalente Gefühle: Wird nicht eine demente Person ausgenutzt, vielleicht sogar, wie es die Performer selbst ausdrücken, „verarscht“? Herbert selbst beschwert sich einmal über die „Hausbesetzung“ durch die beiden, die sich als seine „Freunde bezeichnen, es aber scheinbar nicht sind“ – erneut solch ein hellsichtiger Moment des alten Mannes. Und Markus&Markus erkennen, dass sie zu weit gegangen sind: Herbert braucht seine Mauer. Und sie kommen zu einem bedenkenswerten Schluss: Wir alle, so sagen sie, finden unsere Identität im Erzählen. Aus Erzählungen und Anekdoten aus unserem Leben setzen wir unser Ich zusammen. Der Demente tut nichts anderes. Nur muss er seine Geschichten und seine Anekdoten täglich neu erfinden, weil er sie wieder vergisst. Man muss ihn ernst nehmen und ihm seine Würde lassen. Aber man darf seine Mauer nicht einreißen. „Wenn wir Herbert die Mauer nehmen, nehmen wir ihm seine Identität.“ Wie Peer im Ibsen’schen Zwiebel-Gleichnis kommen auch die Performer zu dem Ergebnis: „Es gibt keinen Kern. Solange Herbert eine Geschichte für seine Mauer hat, ist er „er selbst“.“ Anders ausgedrückt: Wenn die Realität zur Fiktion wird, wird die Fiktion zur Realität. Ist das das Ende?

 

Das alles ist vielschichtig gedacht. Aber ist es auch gut gemacht? Markus&Markus setzen ihre Stücke collagenartig zusammen, und sie arbeiten mit einer Vielzahl von Theatermitteln. Manche sind hinreißend, viele wirken furchtbar banal. Und manche sind beides gleichzeitig - öffnen Sie bitte einmal diesen Link: http://www.rasti-land.de/. Spielen Sie das „Highlights“-Video ab. Sie gelangen mitten in die Aufführung von Ibsen: John Gabriel Borkman.  Dort gibt es exakt das gleiche Video – mit der gleichen Musik, mit den gleichen Bildsequenzen. Mit Wasserrutschen und: einer Raubritterburg (!). Doch in den Fahrgeschäften, auf den Karussells sehen Sie anstelle der „normalen“ Besucher: Markus&Markus und den inzwischen 64jährigen Ex-Manager und Ex-Knastbruder. Das erzielt Wirkung – aber ist es nicht auch Verarschung? – Immer wieder gibt es tolle Musik, immer wieder schräge Lieder. John Gabriel Borkman wird zu Beginn als Comic gespielt – auf bewusst dilettantische Weise. Dilettantisch werden auch die Appelle, Reden und Plädoyers vorgetragen; ebenso wirken auf der Bühne nachgestellte Arbeiten wie das Saugen von Borkmans Wohnung. So etwas wie Charisma strahlen Markus Schäfer und Markus Wenzel nicht aus. Aber immer wieder finden sie grandiose Metaphern: das Schiff „MS Forgotten“, auf dem sie Teile des Demenz-Dramas spielen lassen, das Bild eines Steinbocks, der in eine leere, unbevölkerte Weite schaut, einen Koffer als Sinnbild für Borkmans Erinnerungen an eine glücklichere Zeit in seiner Villa. Wir hören Literaturzitate und Gedichte, teils aus den Ibsen-Stücken, aber auch aus Goethes „Faust“ oder anderen Werken: Sie sind geschickt ausgesucht, aber meist schlecht vorgetragen - weil die zwei es nicht besser können oder weil sie es nicht besser wollen?

Die Mittel sind vielfältig, aber sie wiederholen sich. Wenn es denn stimmen sollte, dass die Leute von Kampnagel Markus&Markus vor einer echten Ibsen-Trilogie gewarnt haben, dann hatten sie natürlich recht. Nie und nimmer könnten Markus Schäfer und Markus Wenzel Ibsen spielen. Ihre Aufführungen haben einen anderen Zweck als die Beschäftigung mit der klassischen Dramen-Literatur. Sie sind unterhaltsam und vermögen aufzurütteln dank der Filme und der Ideen, nicht dank der darstellerischen Qualitäten. Manche Szenen geraten zu lang, manche eher unfreiwillig schwach. Man könnte das alles als „läppisches Zeug“ abtun, wie Herbert es einmal ausdrückt, aber es sind Themen der Zeit, die hier auf unkonventionelle Weise abgehandelt werden. Künstlerisch dilettiert die Truppe manchmal vor sich hin, aber sie hat ein ernstes Anliegen. Und steckt voller kreativer Ideen.