Die Glasmenagerie im Mülheim/Bochum

The Great St. Louis Depression

Tennessee Williams Die Glasmenagerie war in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts Schullektüre. Heute wird das im Dezember 1944 am Civic Theatre Chicago uraufgeführte Familiendrama nur noch selten gespielt. Die auf dem Besetzungszettel des Rottstr 5 Theaters Bochum abgedruckten Ausschnitte aus den Uraufführungskritiken scheinen zu belegen, dass das Stück schon im Jahre 1945 durchaus ambivalent aufgenommen wurde. Der Jubel der Literaturkritik hielt sich in Grenzen, aber für Tennessee Williams bedeutete das Buch den Durchbruch als Dramatiker.

Derzeit haben wir die Gelegenheit, gleich zwei Neu-Inszenierungen des Stückes in NRW miteinander zu vergleichen. Die beiden Spielstätten, das Theater an der Ruhr in Mülheim und das Rottstr 5 Theater in Bochum, liegen exakt 34 Kilometer auseinander. Weiter voneinander entfernt sind die Interpretationen von Simone Thoma und Ragna Guderian. In Bochum schaut man nahezu ausschließlich auf das Familiendrama, in Mülheim auch auf die fortschreitende Industrialisierung. In Bochum stellt man zudem radikal die Frage, ob das „Spiel der Erinnerungen“, wie das Stück im Untertitel heißt, ein mehr oder weniger zutreffender Rückblick auf ein verkorkstes Familienleben oder ob es eher ein Traumspiel ist.

Erinnern wir uns zunächst einmal selbst: an die Wingfields, die ärmliche Familie aus dem St. Louis der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Papa ist längst abgehauen; Mama Amanda, die unter den angeblich siebzehn tollen Hechten, die sie einst heiraten wollten, mit sicherem Griff den denkbar Ungeeignetsten ausgewählt hatte, sitzt mit ihren beiden Kindern auf dem Trockenen. Tom ernährt die Familie mehr schlecht als recht mit seinem bescheidenen Lagerarbeiter-Lohn und flüchtet Abend für Abend ins Kino; die körperbehinderte Laura ist antriebsschwach und beschäftigt sich Tag für Tag mit der titelgebenden Glasmenagerie: einer Sammlung kleiner, verletzlicher gläserner Tierchen. Der „Bewerber“, den Mama für ihre Tochter herbeisehnt und der die ganze Familie aus ihrem Elend erlösen soll, will nicht kommen. Laura ahnt, warum – Amanda dagegen verdrängt die angeblich nur leichte Behinderung ihrer Tochter.

Schwerbehindert in Mülheim: Lauras Zug ist abgefahren

Diese Tochter ist in den meisten Inszenierungen des Stückes irgendwie hübsch und charmant, aber auch kindlich zurückgeblieben und meist depressiv. Mit lebenslang kaputtem Bein kann, in einer Familie wie den Wingfields muss man depressiv werden, zumal die einst besseren Kreisen entsprungene Mutter Amanda ebenfalls einen Sprung in der Schüssel hat. Am Theater an der Ruhr kann bei Gabriella Webers Laura zudem von leichter Behinderung keine Rede sein: Kopf und Bein zwingen sie dazu, nahezu ausschließlich auf dem Fußboden zu hocken. Wenn schon, dann bewegt sie sich mit einem primitiven Materialwägelchen vorwärts. Ob das mehr physische oder mehr psychische Ursachen hat, bleibt abzuwarten – in seltenen Hochphasen kann Laura offenbar auch anders. Im gleichen Maße, in dem ihr Schwerbehinderungsgrad höher ausfällt als von Tennessee Williams vorgesehen, ist auch ihre Depression stärker ausgeprägt. Nicht nur die Möbel der Wingfield’schen Behausung sind in Plastikfolie eingehüllt: Auch das Mädchen versteckt sich im milchigen Plastiksack. Später verkriecht Laura sich in einem Kapuzenmantel aus weißem Fell – ein Eisbär auf einer schmelzenden, vom Festland gelösten Scholle. „Andere Leute machen ihre Behinderung mit Charme und Munterkeit wett“, hält ihr Amanda vor – das Potential dazu strahlte die anrührende Marie Rosa Tietjen vor einigen Jahren bei Sebastian Kreyer in Köln (siehe hier) auf zehn Meilen gegen Wind aus, und Yvonne Forster an der Bochumer Rottstraße traut man eine solche Entwicklung unter der Voraussetzung einer professionellen therapeutischen Behandlung ebenfalls zu. Der Mülheimer Laura dagegen stehen auf dem Weg zu Charme und Munterkeit innere und äußere Blockaden wie unüberwindliche Hindernisse im Weg. So antriebslos, freudlos, in sich gekehrt, so radikal in kindliche Verhaltensmuster regredierend wie Gabriella Weber die Laura gibt, ist es geradezu Familien-Harakiri, wenn Bruder Tom einen unvorbereiteten Arbeitskollegen nach Hause einlädt in der Hoffnung, da möge sich was zwischen ihm und dem mürrischen, unreifen und introvertierten Mädel entspinnen. Als ihr Lieblingsglastier, das Einhorn, sein Horn verliert, kreischt Laura enervierend wie ein Kleinkind, das seine Spielsachen zerstört findet. Aber hat sie nicht allen Grund zu kreischen? Das Horn machte das Einhorn zur Identifikationsfigur für die behinderte junge Frau, die sich die Welt schnell wieder schön zu reden versucht: Jetzt, da das Tier sein Horn verliert, „muss es sich nicht mehr wie eine Missgeburt fühlen“. Der Zuschauer leidet mit dem Mädchen, das sich ein Leben lang als Missgeburt fühlte …

Keine Chance also auf einen „Verehrer“? Ui, da lässt uns Simone Thoma mit äußerst ambivalenten Gefühlen zurück. Klaus Herzog springt nämlich mit Anlauf in die Honigfalle, die ihm die Wingfields in der Hoffnung auf Verheiratung ihres hässlichen Entleins gestellt haben – und mit unlauteren Absichten. Er gibt den Jim O’Connor als gestörten Kaugummikauer und ekelhaften Grapscher, als Vampir aus einem Horrorfilm. Doch Laura taut auf. Sie lässt sich von Jim die roten Stöckelschuhe anziehen, gegen die sich Minuten zuvor noch massiv gewehrt hatte, und tanzt mit ihm einen Tennessee Waltz – sie tanzt ihn ohne Stolpern und ihr Tanzen wird zum Flug; sie tanzt einen Tanz der Erinnerung, der Sehnsucht – und des Selbstbetrugs. Natürlich folgt: der Sturz. Das Einhorn geht kaputt. Nach einem langen Kuss sagt Jim ihr, dass er bald eine andere heiratet. Die er auch nicht so recht liebt – vielleicht hat er sogar in Laura einen Menschen erkannt, der reiner ist als alle Frauen, die er vorher kennengelernt hat. Die Wingfield-Damen werden in ihrem Elend verharren, und auch Jim wird nicht glücklich werden. The Great St. Louis Depression goes on.

The Great St. Louis Depression findet aber statt in einem Zeitalter, in dem die Hollywood-Traumfabrik und die fortschreitende Industrialisierung allgegenwärtig sind. Die Wingfields wohnen in Mülheim in einem Bahnhof. Selbst das altmodische Telefon ähnelt eher einem öffentlichen Fernsprecher als einem Hausanschluss. Immer wieder hört man scheppernde Lautsprecheransagen vom Bahnsteig, immer wieder rattern lautstark Züge vorbei. Aber diese Züge halten nicht an. Für Amanda, Tom und Laura ist der Zug abgefahren. Sie sind Verlierer des Industrialisierungsprozesses, abgehängt vom Fortschritt, ausgegrenzt am Arbeitsmarkt und unfähig zur Anpassung. Gegen das Verlierer-Gefühl hilft auch Hollywood nicht. Tom, in Mülheim von dem 57jährigen Albrecht Hirche weit über dem realistischen Alter von Lauras Bruder gespielt und wie ein alter Clochard wirkend, flüchtet in die Traumfabrik. Es erklingen Fetzen aus alten Filmen, aus denen Tom manchmal zitiert. Doch die Traumfabrik ist künstlich, auch die Scheinwelt bietet keine Zuflucht und keinen Schutz gegen die Depression. Tom bleibt ein resignierter, abgehalfterter, ab und an einmal laut werdender Verlierer, gleich ob er sein Leben als Lagerarbeiter in der Schuhfabrik fortsetzt oder ob er wie von Tennessee Williams vorgesehen seinen Seesack schultert, seinem Vater folgt und einfach abhaut.

Dolly in Bochum: Vergeblich singt Laura eine heile Welt herbei

Auch in Bochum gibt es ein einziges Mal eine kleine Einspielung aus einem Hollywood-Film. Regisseurin Ragna Guderian greift tief in die Sehnsuchts-Kiste: Wir hören Vivien Leigh und Clark Gable als Rhett Butler und Scarlett O’Hara aus der fast 77 Jahre alten Verfilmung von „Gone with the Wind“. Yvonne Forster und Alexander Ritter als Laura und Tom bewegen die Lippen dazu und schmachten einander an: Es ist ihr „Spiel der Erinnerungen“. Doch in Bochum bedarf es keiner Traumfabrik. Laura träumt sich mit Dolly Parton in eine eigene Welt - in eine Welt, in der der „Bewerber“ nur eine Projektion ist. Laura widmet der Country-Sirene gleich den ganzen Abend, und wenn sie am Mikrofon (teilweise im Duett mit Alexander Ritter) die Lieder von Dolly, Johnny Cash oder anderen interpretiert, gründet der Freiheitsdrang, dem diese Lieder Ausdruck verleihen, auch in einer Sehnsucht nach Harmonie und Heimat. Es ist die Sehnsucht nach einer Heimat, die Tom und Laura in ihrer ärmlichen Wohnung längst nicht mehr haben. Im Duett singen sie „Windowsill“ von Arcade Fire: „I don’t want to live in my father’s house no more”: Wie gern würden sie die Heimat an anderen Orten suchen, aber sie haben weder Mut noch Kraft, um sich aus ihrer Welt zu lösen. Die Sehnsucht nach Veränderung scheint an der Bochumer Rottstraße dennoch lebendiger als im ehemaligen Solbad in Mülheim-Speldorf, wo die Züge längst unbeachtet durchrauschen.

Anders als Simone Thoma in Mülheim interessiert sich Ragna Guderian weniger für die gesellschaftlichen Begleitumstände des Dramas als vielmehr für den Zustand der Familie Wingfield. Laura, in Bochum wieder die schüchterne, sympathische Gehbehinderte, ist bei Yvonne Forster ein romantisches junges Mädchen, das viel Liebe zu geben hätte. Ihren physischen Defekt gleicht ihr Charme locker aus – aber würden wir unserem Freund zur Hochzeit mit dieser jungen Dame raten? Welcher Mann will mit den psychischen Schäden zurechtkommen, die ihre Familie in ihr angerichtet hat? Krampfhaft (und gegen den Willen der erwachsenen Kinder) werden Reste von Familienritualen und erzieherischen Prinzipien behauptet, an die sich längst niemand mehr hält. Tom ist verstockt und cholerisch - vor lauter Frustrationen steht er ständig vor der Explosion. Amanda lebt nur noch in einer Scheinwelt. Sie zeigt einerseits Ansätze einer Helikopter-Mutter, andererseits ist sie eine egozentrische Frau, die weder für die physischen noch für die psychischen Probleme ihrer Tochter Verständnis aufbringt: Was übrigbleibe, wenn Mädchen keinen Heiratsantrag bekämen, seien „kleine, vogelhafte Frauen“. Wie eine kleine vogelhafte Frau wirkt Monika Bujinskis Amanda selbst. Ihre Rücksichtslosigkeit resultiert aus ihrer Realitätsferne. Auch ihre Erinnerungen an die siebzehn Verehrer wirken irreal -  es sind wohl nur Erinnerungen an Träume.

Irreal ist in Bochum auch das Erscheinen des potentiellen Verehrers Jim O’Connor. Laura übernimmt weite Teile seiner Rolle. Als Jasper Schmitz schließlich auftritt, entpuppt er sich als eine verbogene Traumfigur, ein Mensch ohne Knochen, eher ein Schizophrener als ein Erlöser. Jim gibt es nicht – nicht als Verehrer und nicht als Besucher von Tom: nur als den Jungen von der Schule, der einmal nett zu Laura war und in den sie sich verliebt hatte. Als Lauras Erinnerung. Dolly Parton hat noch einmal ganz viel Zärtlichkeit für das Mädchen – eine Erinnerung an eine Mutter, so wie sie sein sollte. Diese Mutter hat es für Laura wohl nie gegeben. Vor mehr als zehn Jahren hieß es in Roberto Ciullis Inszenierung von Lorcas „Doña Rosita“: Nichts ist lebendiger als die Erinnerung. Schließlich machen Erinnerungen das Leben unmöglich.